Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen und die Secunda höherer Lehranstalten

Nur flehend hob das neugeborne Lamm 
Den Blick zu Jovis Thron. — „Was fehlet Dir?" 
Sprach Vater Zeus, „Du scheinst zu klagen, rede!^ 
10 Da sprach das fromme Lamm: „Was soll uns schützen? 
Nur mir allein ward keine Waff' und Wehr." — 
„In deinen Augen ruht der Unschuld Blick, 
Leicht kräuselt sich der Wolle weißes Vlies 
In tausend Löckchen um den runden Leib. 
15 So stehst Du in Unschuld schön. Getrost! 
Ein höher Herz nimmt Deiner wohl sich an." — 
So sprach der Wesen Vater. Sieh es kam 
Das erste Menschenpaar. Sie sahn das Lamm, 
Und trugen es auf sanftem Arm zur Hütte, 
So ward der Mensch des Lammes Schirm und Wehr. 
Der Menschenunschuld Schirm und Wehr ist Gott. 
Bereiteten ein vager rym uno lagien: 
„Das hat gewißlich Zeus uns zugedacht, 
Darum hat er ihm die Unschuld angebildet." 
9. Preis J 
(Von Justin 
1. Jüngsthin hört' ich, wie die Rebe 
Mit der Tanne sprach und schalt: 
„Stolze himmelwärts Dich hebe, 
Dennocy bleibst Du starr und kalt! 
2. Spend' auch ich nur kargen Schatten 
Wegemüden, gleich wie Du, 
Führet doch mein Saft die Matten, 
O wie leicht! der Heimat zu. 
3. Und im Herbste, welche Wonne 
Bring' ich in des Menschen Haus! 
Schaff' ihm eine neue Sonne, 
Wann die alte löschet aus." 
>er Tanne. 
us Kerner.) 
4. So sich brüstend sprach die Rebe; 
Doch die Tanne blieb nicht stumm, 
Säuselnd sprach sie: „Gerne gebe 
Ich Dir, Rebe, Preis und Ruhm. 
5. Eines doch ist mir beschieden: 
Mehr zu laben, als Dein Wein, 
Lebensmüde, — welchen Frieden 
Schließen meine Bretter ein!" 
6. Ob die Rebe sich gefangen 
Gab der Tanne, weiß ich nicht; 
Doch sie schwieg — und Thränen hangen 
Sah ich ihr am Auge licht. 
10. Strenge Barmherzigkeit *). 
(Von Abraham Emanuel Fröhlich.) 
Das Thal schreit auf zum Föhn: 
„Was wirft Dein wild Gestöhn 
Lavinen ab den Höhn, 
Die Bäche zu empören, 
5 Die Matten zu zerstören! 
Kannst Du denn nicht gelind 
Den Winterschnee zerthauen?" 
„Nein!" ruft der Frühlingswind, 
„Tief liegen noch die grauen 
10 Schneewvlken in dem Land; 
Groß ist der Widerstand, 
Mit dem die Norde kämpfen, 
Wollt' ich sie gütlich dämpfen. 
Und sollte nur gemach, 
15 Tropfenweise nach und nach 
Der Schnee geschmolzen werden, 
Würd's Maien nicht auf Erden. 
Des Kampfgetümmels Spuren 
Deck' ich mit grünen Fluren." 
11. Glauben 2). 
(Don Abraham Emanuel Fröhlich.) 
Mit dem Vogel sind geflogen 
Seine Kinder über Meer. 
Droben ward der Himmel trüber; 
Drunten brausten Sturmeswogen; 
5 Und die Kinder klagten sehr: 
Ach, wie kommen wir hinüber? 
Nirgend will ein Land uns winken, 
Und die müden Schwingen sinken." 
Aber ihre Mutter sagt: 
101„Kinder, bleibet unverzagt! 
Fühlt ihr nicht im Tiefsten innen 
Unaufhaltsam einen Zug, 
Neuen Frühling zu gewinnen? 
Aus! in Jenem ist kein Trug! 
15 Der die Sehnsucht hat gegeben, 
Er wird uns hinüberheben, 
Und Euch trösten balde, balde, 
In dem jungbelaubten Walde!* 
1) Die Wohlthat harter Prüfungen soll veranschaulicht werden. 
2) DieKraftdes Glaubens und die Sehnsucht nach einer bessern Zukunft wird veranschauuw -
	        
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