Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen und die Secunda höherer Lehranstalten

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IV 
16. Vom Baumlein, das andere Blätter hat gewollt'). 
(Von Friedrich Nückert.) 
1. Es ist ein Bäumlein gestanden im 
Wald, 
In gutem und schlechtem Wetter; 
Das hat von unten bis oben 
Nur« Nadeln gehabt statt Blätter; 
Die Nadeln, die haben gestochen, 
Das Bäumlein, das hat gesprochen: 
2. Alle meine Kameraden 
Haben schöne Blätter an, 
Und ich habe nur Nadeln, 
Niemand rührt mich an; 
Dürst' ich wünschen wie ich wollt', 
Wünscht' ich mir Blätter von lauter Gold. 
3. Wie's Nacht ist, schläft das Bäum¬ 
lein ein, 
Und früh ist's aufgewacht; 
Da hatt' es goldne Blätter fein, 
Das war eine Pracht! 
Das Bäumlein spricht: Nun bin ich stolz; 
Goldne Blätter hat kein Baum im Holz. 
4. Aber wie es Abend ward, 
Ging der Jude durch den Wald, 
Mit großem Sack und großem Bart, 
Der sieht die goldnen Blätter'bald; 
Er steckt sie ein, geht eilends fort, 
Und läßt das leere Bäumlein dort. 
5. Das Bäumlein spricht mit Grämen: 
Die goldnen Blättlein dauern mich; 
Ich muß vor den andern mich schämen, 
Sie tragen so schönes Laub an sich, 
Dürft' ich mir wünschen noch etwas, 
So wünscht' ich mir Blätter von hellem Glas. 
6. Da schlief das Bäumlein wieder ein, 
Und früh ist's wieder aufgewacht; 
Da hatt' es glasene Blätter sein, 
Das war eine Pracht! 
Das Bäumlein spricht: Nun bin ich froh; 
Kein Baum im Walde glitzert so. 
7. Da kam ein großer Wirbelwind 
Mit einem argen Wetter, 
Der fährt durch alle Bäume geschwind, 
Und kommt an die glasenen Blätter; 
Da lagen die Blätter von Glase 
Zerbrochen in dem Grase. 
8. Das Bäumlein spricht mit Trauern: 
Mein Glas liegt in dem Staub, 
Tie andern Bäume dauern 
Mit ihrem grünen Laub; 
Wenn ich mir noch was wünschen soll, 
Wünsch' ich mir grüne Blätter wohl. 
9. Da schlief das Bäumlein wieder ein, 
Und wieder früh ist's aufgewacht; 
Da hatt' es grüne Blätter fein, 
Das Bäumlein lacht. 
Und spricht: Nun hah'ich doch Blätter auch, 
Daß ich mich nicht zu schämen brauch. 
10. Da kommt mit vollem Euter 
Die alte Geiß gesprungen; 
Sie sucht sich Gras und Kräuter 
Für ihre Jungen; 
Sie sieht das Laub und fragt nicht viel, 
Sie frißt es ab mit Stumpf und Stiel. 
11. Da war das Bäumlem wieder leer, 
Es sprach nun zu sich selber: 
') Dieses Gedicht sowie das folgende von dem aus Ehrgeiz mit seinem Loose un- . 
zufriedenen, aber durch Schaden bekehrten Bäumlein, gehört zu den „fünf Mährlein", 
welche Rückert „für sein Schwestcrlein" Marie zum Weihnachtsfeste (1813) gedichtet 
und in welchem er das Geschwätzige der Kindersprache mit unübertroffener Natürlich¬ 
keit nachgeahmt hat. ^ Der Schluß des ersten Gedichtes weist namentlich darauf hin, 
daß man sich das Mährlein als wirtlich einem Kinde erzählt zu denken hat, welches 
treuherzig zuhört, und zuletzt in seinem Glauben noch bestärkt wird durch die Auf¬ 
forderung, selbst hinauszugehen und zu sehn, zugleich aber durch die Warnung, es nicht 
anzurühren, wie Kinder zu thun pflegen. Die Spannung, mit welcher das Kind zuge¬ 
hört, gibt sich auch aus seiner eigenen Frage im vorletzten Verse zu erkennen, einer 
Frage, wie sie von Kindern bei einem Verbote stets wieder aufgeworfen wird. — Welches 
ist die Moral des Ganzen? Vgl. Chamisso's Kreuzschau S. 280. — In Bezug auf 
die Form scheint auch das Unregelmäßige in der Ausdrucksweise des Kindes nach" 
geahmt, sowohl in der (naiven, volksmäßigen, selbst von Provinzialismen nicht freien) 
Sprache (Strophe 1, V. 1, 5 u. 6, Strophe 8, V. 3, Strophe 11, V. 4), als in 
der Ungleichmäßigkeit des Metrums (in der zweiten Strophe der klagende Trochäus, 
in vielen Strophen der kurze 4. Vers) und besonders des Reims, der Anfangs fehlt 
(Strophe 1, V. 1 u. 3), dann mißlingt (Strophe 2, V. 1 u. 3), bald aber ganz regel¬ 
mäßig wird. Wo findet sich eine Allitteration? — Das Adjektiv glasen statt gläsern 
ist wohl gewählt, um die hier fern liegende Vorstellung der Zerbrechlichkeit auszu¬ 
schließen. Das Kind wünscht sich Blätter von Glas, weil es nur auf den äußern 
Schimmer ohne innern Werth sieht, denn die goldenen Blätter hatte es wegen ihres 
innern Werthes verloren. — Vgl. Hiecke in Viehoff's Archiv für den Unterricht 
Deutschen I. 3. S. 46 ff., auch abgedruckt in Hiccke's gesammelten Aufsätzen zur 
deutschen Litteratur, S. 46 ff. und C. Gude, Erläuterungen deutscher Dichtungen, 
4. Reihe (1868) S. 81 ff.
	        
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