Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen und die Secunda höherer Lehranstalten

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91 Die wiedergefundenen Söhne. 
(Von Joh. Gottfr. v. Herder.) 
1. Was die Schickung schickt, ertrage; 8. Zweene seiner alten Diener 
Wer ausharret, wird gekrönt. Kamen vor der Hütte Thür, 
Reichlich weiß sie zu vergelten, Sah'n den Gärtner und erkannten 
Herrlich lohnt sie stillen Sinn. An der Narb' ihn im Gesicht, 
Tapfer ist der Löwensieger, An der Narbe, die dem Feldherrn, 
Japser ist der Weltbezwinger, Statt der Schätze, statt der Lorbeern, 
Tapfrer, wer sich selbst bezwang. Einzig blieb als Ehrenmahl. 
2. Placidus, ein edler Feldherr, 
Reich an Tugend und Verdienst, 
Beistand war er jedem Armen, 
Unterdrückten half er auf. 
Wie er einst den Feind bezwungen, 
Wie er einst das Reich gerettet, 
Rettet' er, wer zu ihm floh. 
3. Aber ihn verfolgt' das Schicksal, 
Armuth und der Bösen Neid. 
„Laß dem Neid uns und der Armuth 
Still entgehn!" sprach Placidus. 
„Auf! laß uns dem Fleiße dienen! 
(Sprach sein Weib,) und gute Knaben, 
Tapfre Knaben, folget uns." . 
^ 4. Also gingen sie; im Walde 
Traf sie eine Räuberschaar, 
Trennen Vater, Mutter, Kinder — 
Lange sucht der Held sie auf. 
„Placrdus, (ries eine Stimme 
Ähm, im hochbeherzten Busen,) 
Dulde Dich, Du sindest sie." 
5. Und er kam vor eine Hütte; 
„Kehre, Wandrer, bei mir ein, 
(Sprach der Landmann,) Du bist traurig; 
Aus! und fasse neuen Muth. 
Wen das Schicksal drückt, den liebt es, 
Wem's entzieht, dem will's vergelten, 
Wer die Zeit erharret, siegt." 
9. Alsobald ward er gerufen; 
Es erjauchzt das ganze Heer. 
Vor ihm ging der Femde Schrecken, 
Ihm zur Seite Sieg und Ruhm, 
Stillen Sinns nahin er den Palmzweig, 
Gab die Lorbeern seinen Treuen, 
Seinen Tapfersten im Heer. 
10. Als nach ausgesocht'nem Kriege 
Jetzt der Siegestanz begann, 
Drängt mit zween seiner Helden 
Eine Mutter sich hervor. 
„Vater, nimm hier Deine Kinder! 
Feldherr, sieh' hier Deine Söhne, 
Mich, Dein Weib, Eugenia. 
11. Wie die Löwin ihre Jungen 
Jagt' ich sie den Räubern ab. 
Nachbarlich in dieser Hütte, 
(Komm' und schau!) erzog ich sie. 
Glaubte Dich uns längst verloren; 
Deine Söhne mir statt Deiner, 
Deiner werth erzog ich sie. 
12-. Als die Post erscholl vom Kriege, 
Rufend Deinen Namen aus, 
Auserweckt vom Todtentraume 
Rüstet' ich die Jünglinge. 
„„Zieht! verdienet Euren Vater! 
Streitet unerkannt und werdet, 
Werdet Eures Vaters werth."" 
6. Und er ward des Mannes Gärtner, 
Dient' ihm unerkannt und treu, 
Pflegend tief in seinem Herzen 
Eine bittre Frucht, Geduld. 
„Placidus, (rief eine Stimme 
Ähm im tiesbedrängten Busen,) 
Dulde Dich, Du findest sie." 
7. So verstrichen Jahr' auf Jahre, 
Bis ein wilder Krieg entsprang. 
„Wo ist Placidus, mein Feldherr, 
^Sprach der Kaiser,) suchet ihn." 
Uno man sucht' ihn nicht vergebens; 
Denn die Prüfzeit war vorüber, 
Und des Schicksals Stunde schlug. 
13. „Und ich seh', sie tragen Kränze, 
Ehrenkränze, Dir zum Ruhm, 
Die Du unerkannt den Söhnen, 
Nicht als Söhnen, zuerkannt. 
Vater, nimm jetzt Deine Kinder, 
Feldherr, sieh hier Deine Söhne 
Und Dein Weib Eugenia." 
14. Was die Schickung schickt, ertrage; 
Wer ausharret, wird gekrönt. 
Placidus, der stillgesinnte, 
Lebet noch in Hymnen jetzt; 
Christlich wandt' er seinen Namen, 
Seinen Namen nennt die Kirche 
Preisend Sanct Eustachius. 
Erzählung geblieben. Der Stoff beruht daher auf Ueberlieferung, und das Ver¬ 
dienst des Dichters besteht darin, nur ächt poetische Stoffe zu wählen und diese in 
lchljchter, aber erhebender Darstellung auszuführen. Ein Hauptgegenstand der christ- 
"chen Legende ist die Schilderung aufopfernder Hingebung.
	        
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