Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen und die Secunda höherer Lehranstalten

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30 Nach den Kinderchen sieht. Sie lächelt freundlich dem Keimchen, 
Und es thut ihm so wohl, bis tief hinein in das Würzlein. 
„Solch' eine prächtige Frau, und doch so gütig und freundlich!" 
Aber was sie wohl strickt? Ein Gewölk aus himmlischen Düften! 
Schon setzt's Tropfen, ein Sprützelchen kommt, jetzt regnet es völlig. 
35 Keimlein trinket sich satt; draus wehet ein Lüftchen und trocknet's, 
Und es sagt: „Nicht kehr' ich zurück jetzt unter den Boden! 
Nicht um Alles! Da bleib' ich und schau', zu was ich noch gut bin!" 
Esset, ihr Kindlein, und fegn' es euch Gott, und wachst und gedeihet! 
Bittere Zeit doch harrt auf das Keimlein. Wolken an Wolken 
40 Stehen am Himmel, bei Tag' und bei Nacht, und die Sonne verbirgt sich. 
Hoch aus den Bergen, da schneit es, und weiter unten, da hagelt's. 
Hu — wie schaudert es jetzt dem Keimlein, wie wankt es und weint es! 
Und der Boden ist zu, und hat gar ärmliche Nahrung. 
„Ist denn die Sonne gestorben," so spricht's, „daß sie gar nicht zu sehn ist? 
45 Oder fürchtet sie auch, sie ersrör'? Ach wär' ich geblieben, 
Wo ich gewesen, bescheiden und klein im mehligen Körnlein, 
In dem heimischen Grund' und in der befeuchteten Wärme!" 
Seht, ihr Kinder, so geht's! Ihr sprechet wohl auch noch dereinst so, 
Wenn in die Welt ihr kommt, bei nie gesehenen Leuten 
50 Schassen müßt und euch rühren und Brot euch verdienen und Kleidung! 
„Wäre daheim ich doch bei'm Mütterchen, hinter dem Ofen!" 
Tröst' euch Gott, es währt nicht immer, und endlich wird's besser, 
Wie auch das Keimlein erfahren. Nun hört! Am heiteren Manag 
Weht es so lau, und es 'steigt die Sonne so kräftig vom Berg auf, 
55 Und sie schaut, wie's dem Keimlein ergeht, und gibt ihm ein Küßchen. 
Ach! wie ist's ihm so wohl, es weiß nicht zu bleiben vor Freude! 
Allgemach pranget die Matte mit Gra^ und farbigen Blumen, 
Allgemach duftet die Blüte der Kirschen, es grünet der Pflaumbaum, 
Buschiger wird das Korn, und buschiger Weizen und Gerste, 
$0 Und mein Häberlein spricht: „Jetzt bleib' ich allein nicht dahinten!" 
Nein, es spreitet die Blättchen — wer hat sie so zart ihm gewoben? 
Jetzt auch schießet der Halm — wer treibt in Röhren an Röhren 
Aus den Wurzeln das Wasser hinauf zur saftigen Spitze? 
Endlich schlüpfet ein Aehrlein heraus und schwankt in den Lüften — 
>65 Sage mir doch nur ein Mensch, wer.hat an seidene Fäden 
Tort ein Knöspchen gehängt und hier mit künstlichen Händen? — 
Himmlische Engel, wer sonst? — Sie wandeln zwischen den Furchen 
Auf und ab von Halme zu Halm' und schaffen gewaltig. 
Jetzt hängt Blüte bei Blüt' an der zierlichen schwankenden Aehre, 
T0 Und mein Häferchen steht gleich einem Bräutlein im Kirchstuhl. 
Jetzt sind zarte Körnchen darin, und wachsen im Stillen, 
Und mein Haber beginnt zu merken, was es will werden. 
Käferchen kommt nun und Fliege: sie kommen und machen Besuch ihm, 
Schauen, wie es ihm geht, und singen ihr: Eia Popeia! — 
^5 Und auch der Glühwurm kommt, Potz tausend, mit dem Laternchen, 
Nachts um Neun auf Besuch, wenn Flieg' und Käserlein schlafen. — 
Esset, ihr Kinder, gesegn' es euch Gott, und wachst und gedeihet! 
Späterhin hat man geheu't, und Kirschen gesammelt nach Pfingsten; 
Späterbin saftige Pflaumen gepflückt, dort hinten im Garten, 
30 Späterhin bat man Roggen gemäht und Weizen und Gerste; 
Aber die Kinder der Armen sind barfuß zwischen den Stoppeln 
Aehren lesen gegangen, und's Mäuslein machte den Kehraus. 
Drauf hat auch der Haber geblüht: voll mehliger Körner 
Hat er geschwankt und gesagt: „Jetzt ist's mir endlich verleidet. 
35 Meine Zeit, ich merk' es, ist aus; was mach' ich allein hier 
Zwischen den Stoppelrüben und zwischen dem Kraut' der Kartoffeln?" 
Draus ist die Mutter hinaus mit Euphrosinchen und Lieschen, 
Und schon fror's an den Fingern, so kalt war's Morgens und Abends. 
Endlich haben wir heim ihn gebracht in die staubige Scheune, 
30 Und ihn gedroschen von früh um zwei bis zu Abend um viere. 
Draus hat des Müllers Esel ihn abgeholt in die Mühle,- 
Pütz, Deutsche« Lesebuch. 6. Ausl. 
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