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VI. Sagen.
Hier, an geweihter Stätte, verehrte der Volksstamm der Triboker,
der diesen Teil des Landes innehatte, den Gott des Krieges. Hier¬
her strömte von nah und fern aus den umliegenden Gauen das Volk
herbei, voller Andacht und Ehrfurcht, brachte dem furchtbaren Gotte
seine Opfer dar und beugte das Antlitz zur Erde, wenn der Odem
des Gewaltigen durch die Wipfel brauste. Zuvor waren die Opfer,
die hier verbluteten, aus einem Quell besprengt worden, der neben
den: Altar rieselte, von dem herab der Priester im weißen Kleid ge¬
weihte Worte sprach.
Lange standen, stolz und prangend, die drei Buchen mitten im
gottgeweihten Haine. Lange wurde in ihrem Schatten des gewaltigen
Gottes Macht verehrt.
Jetzt aber, nachdem Geschlecht um Geschlecht, Jahrhundert nur
Jahrhundert treulich am Baue geholfen hat, umschließt das kost¬
barste Münster den alten Hain. Jedenfalls war seit undenklicher
Zeit eine Quelle, die man eben für jene Opferquelle hielt, in die Kirche
eingeschlossen, wo sie als natürliches Taufbecken diente und für ganz
Straßburg das Taufwasser bot.
Die Quelle selbst, die ziemlich nahe an der Kirchmauer lag, war
in Form eines tiefen Brunnens gefaßt, dessen Öffnung jedoch nach
mehreren Unglücksfüllen mit schweren Steinen verschlossen ward.
Allein noch in anderer und viel gewaltigerer Weise hat die Sage
der geheimen Naturkraft Ausdruck verliehen, die da unten pulsiert;
denn unter dem weiten Gewölbe, das die Mauern des Münsters tragen
soll, flutet ein schwarzer See, dessen Wogen man in lautloser Nacht
branden und rauschen hört, dazu klingt ein Plätschern, als ob ein
Schiff mit Ruderschlägen über die Fläche zöge. Schreckliches Gewürm
mit feurigen Blicken treibt sich dämonenhaft durch diese Finsternis, in
die es ewig gebannt ist, und erfüllt die öde Tiefe mit Grauen; selbst
die Stätte, wo der Weg in sie hinunterführt, will der Volksmund
kennen. Es war eine dunkle Pforte unter dem Hause „zum Hirschen",
das dem Münster gegenüberliegt, und mehr als einmal ward es ver¬
sucht, den grausigen Weg zu gehen, doch die dämonischen Mächte da
drunten sträubten sich mit drohender Macht wider die Kühnheit der
Menschen. Ein betäubender Wirbelwind, der jedes Licht erlöschte und
jeden Odeur erstickte, drang aus den geöffneten Pforten, und im Ge¬
fühle vermessenen Beginnerrs ergriffen auch die Kühnsten die Flrrcht.
So ward die Pforte endlich zugeschüttet und dicht vermauert.
Mehr oder minder mag jede dieser Sagen wohl ihrer: ferner:
geschichtlichen Anlaß haberr, ihre phantasievolle Durchbildung aber, ihr
letzter Grund liegt sicherlich in der geheimnisvollen, überwältigenden
Großartigkeit des Baues, der die Gedanken der Menschen in andere