Full text: [Teil 4 = Kl. 5 u. 4] (Teil 4 = Kl. 5 u. 4)

Dädalus fing an zu befürchten, der Name des Schülers möchte 
größer werden als der des Meisters; der Neid übermannte ihn, und er 
brachte den Knaben hinterlistig um, indem er ihn von Athenes Burg 
hinabstürzte. Während Dädalus mit feinem Begräbnisse beschäftigt war, 
wurde er überrascht; er gab vor, eine Schlange zu verscharren. Dennoch 
wurde er von dem Gerichte wegen eines Mordes angeklagt und schuldig 
befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in Attika umher, 
bis er weiter nach der Insel Kreta floh. 
Hier fand er bei dem Könige Minos eine Freistätte, ward dessen 
Freund und als berühmter Künstler hoch angesehen. Er wurde von 
ihm ausgewählt, um dem Minotaurus, einem Ungeheuer, das vom 
Kopfe bis an die Schultern die Gestalt eines Stieres hatte, im übrigen 
aber einem Menschen glich, einen Aufenthalt zu schaffen, wo das Un¬ 
getüm den Augen der Menschen ganz entrückt würde. Der erfindsame 
Geist des Dädalus erbaute zu dem Ende das Labyrinth, ein Gebäude 
voll gewundener Krümmungen, welche Augen und Füße des Betretenden 
verwirrten. Die unzähligen Gänge schlangen sich ineinander wie der 
verworrene Lauf des geschlängelten phrygischen Flusses Mäander, der 
in zweifelndem Gange bald vorwärts, bald zurückfließt und oft seinen 
eigenen Wellen entgegenkommt. Als der Bau vollendet war und Dä¬ 
dalus ihn durchmusterte, fand sich der Erfinder selbst mit Mühe zur 
Schwelle zurück, ein so trügerisches Jrrsal hatte er gegründet. Im 
Innersten dieses Labyrinthes wurde der Minotaurus gehegt, und seine 
Speise waren sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen, die vermöge 
alter Zinsbarkeit alle neun Jahre von Athen dem Könige Kretas zu¬ 
gesandt werden mußten. 
Indessen wurde dem Dädalus die lange Verbannung aus der ge¬ 
liebten Heimat doch allmählich zur Last, und es quälte ihn, bei einem 
tyrannischen und selbst gegen seinen Freund mißtrauischen Könige sein 
ganzes Leben aus einem vom Meere rings umschlossenen Eilande zu¬ 
bringen zu sollen. Sein erfindender Geist sann auf Rettung. Nachdem 
er lange gebrütet, rief er endlich ganz freudig aus: „Die Rettung ist 
gefunden! Mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aus¬ 
sperren, die Luft bleibt mir doch offen; soviel Minos besitzt, über sie 
hat er keine Herrschergewalt. Durch die Luft will ich davongehen!" 
Gesagt, getan. Dädalus überwältigte mit seinem Erfindungsgeiste die 
Natur. Er fing an, Vogelsedern von verschiedener Größe so in Ord¬ 
nung zu legen, daß er nüt der kleinsten begann und zu der kürzeren 
Feder stets eine längere fügte, so daß man glauben konnte, sie seien 
von selbst ansteigend gewachsen. Die Federn verknüpfte er in der Mitte 
mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die so vereinigten Federn beugte er 
mit kaum merklicher Krümmung, so daß sie ganz das Ansehen von 
Flügeln bekamen. — Dädalus hatte einen Sohn, namens Ikarus. 
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