Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, nebst einem Abriß der Poetik und Litteraturgeschichte

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Zum schmählichsten, schaudervollsten Tode, dem Tode des Hungers, verdammt. 
Pferde und Rinder waren unhallbar, zerrissen die Stränge und suchten ver¬ 
geblich mit ihren Reitern der Zerstörung zu enlfliehen, die unvermeidlich schien. 
Ganze Gruppen, die sich aus der Flucht befanden, wurden vom Hagel der 
Ziegelsteine und Werkstücke erreicht oder von dem Falle erschütterter Gebäude 
zermalmt. Ein Hause lies nach der Terra de Passa, dem Platze am könig¬ 
lichen Palaste, um von hier aus die Schiffe zu eilen; aber sie stürzten schnell 
Zurück, weil der Tajo sich plötzlich zu einer Höhe von 20 bis 30 Fuß erhob. 
Gs gehört unter die gräßlichsten Wunder dieses Tages, daß der Fluß blitz¬ 
ähnlich so anschwoll und dann eben so geschwind zurücktrat; Schiffe, die in 
iechs Klafter Tiefe gelegen hatten, wurden auf den nackten Boden gesetzt. 
Diese über allen Ausdruck grausenvolle Flut und Ebbe kehrte an diesem Tage 
Melmal zurück. Etliche Boote wurden gleich verschlungen; aus der königlichen 
P^erft schwemmte diese Sündflut alles Zimmerholz nebst Masten, Fässern und 
sämtlichen ungeheuren Schiffsvorräten hinweg. Än der vorher erwähnten 
Parre am Eingänge des Hafens sah man die See stoßweise sich brechen wie 
im Sturme, ein Anblick, der auch den beherzten Seefahrer bange machte. 
Das Schloß Regio geriet in große Gefahr durch dieses Anschwellen des Flusses 
und feuerte Notsignale ab. In der Stadt stiegen ungeheure Staubsäulen neben 
den fallenden Häusern aus. Die Überlieferung sagt, daß die Sonne einige 
Augenblicke davon verdunkelt und daß es so schwarz wie in der finstern Nacht 
geworden sei: ein neuer Schrecken unter so vielen grausen Szenen. Sie be¬ 
uchtet ferner, was man hier leicht hinzudenkt, daß beständiges Angstgeschrei 
überall erschollen sei und daß jede Brust den Jammer des Todes gefühlt 
habe, dessen tausendfältige Gestalten man vor sich sah. Aus die Szenen der 
Zerstörung, welche die unglücklichen Einwohner umgaben, folgte eine fürchter¬ 
liche Pause. Die Staubwolken verschwanden; Gerettete wünschten sich Glück, 
sudem andere den Verlust ihrer Verwandten betrauerten; Kinder, Gatten, 
Perlobte rangen die Hände; Eltern knieten bei ihren entseelten Kindern nieder. 
Diele waren der Vernichtung wie durch ein Wunder entgangen, krochen aus 
ben Trümmern hervor und fanden sich bei den Lebenden ein; etliche hielten 
Üch in einer fürchterlichen Höhe an den Sparren und Balken zertrümmerter 
Häuser und flehten um Hilfe; verstümmelt, blutend und sterbend füllte eine 
P^enge Unglücklicher die Luft mit Wehklagen, Jammergeschrei und Gebeten, 
^ach wenigen Minuten folgte ein zweiter Erdstoß. Die wenigen Häuser, 
Welche noch standen, wankten gräßlich hin und her wie der Mast eines Schiffes 
im Sturme. Diejenigen, welche sich ihrer Rettung gefreut hatten, schrieen 
nun wieder zuni Himmel um Gnade und suchten so schnell als ntöglich über 
om Trümmer zu kommen. Als sie an die Kirche gelangten, fanden sie neuen 
Dnlaß, Gott für ihre wunderbare Erhaltung zu danken; denn sie sahen hier 
Nlil Schaudern, daß die Scharen von Menschen, die dorthin geflüchtet waren, 
MUer den herabgestürzten Türmen, Dächern und Werkstücken dieser großen 
Gebäude größtenteils ihr Grab gefunden hatten. Nicht lange, so fühlte man 
^nen drittelt gewaltigen Stoß. Die Fliehenden konnten sich nicht auf den Beinen 
halten; sie mußten sich niederlegen oder niederknieen. Schrecken, Verwirrung, 
Üngstgeschrei, Flehen um Hilfe und Rettung vermehrten abermals das Grausen- 
Uolle dieser Szene und die Größe des Jammers. Das Trauerspiel war noch 
lange nicht zu Ende; denn auch das Feuer sollte den Ruin und den Aufruhr
	        
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