Full text: [Teil 3, [Schülerband]] (Teil 3, [Schülerband])

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längliches Viereck unsern Augen mächtig entgegnet. Nähern wir uns 
derselben in der Dämmerung, bei Mondschein, bei sternheller Nacht, 
wo die Teile mehr oder weniger undeutlich werden und zuletzt ver— 
schwinden, so sehen wir eine kolossale Wand deren Höhe zur Breite 
ein wohlthätiges Verhältnis hat. Betrachten wir sie bei Tage und 
abstrahieren wir durch die Kraft unseres Geistes vom Einzelnen, so erkennen 
wir die Vorderseite eines Gebäudes, welche dessen innere Räume nicht 
allein zuschließt, sondern auch manches danebenliegende verdeckt Die 
Offnungen dieser ungeheuren Fläche deuten auf innere Bedürfnisse, und 
nach diesen können wir sie sogleich in neun Felder abteilen. Die große 
Mittelthüre, die auf das Schiff der Kirche gerichtet ist, fällt nun zuerst 
in die Augen. Zu beiden Seiten derselben liegen zwei kleinere, den 
Kreuzgängen angehörig. Über der Hauptthüre trifft unser Blick auf 
das radförmige Fenster, das in die Kirche und deren Gewölbe ein 
ahnungsvolles Licht verbreiten soll An den Seiten zeigen sich zwei 
große senkrechte, länglichviereckige Offnungen, welche mit der mittelsten 
bedeutend contrastieren und darauf hindeuten, daß sie zu der Base 
emporstrebender Türme gehören. In dem dritten Stockwerke reihen 
sich drei Offnungen aneinander, welche zu Glockenstühlen und sonstigen 
kirchlichen Bedürfnissen bestimmt sind. Zu oberst sieht man das Ganze 
durch die Balustrade der Gallerie; anstatt eines Gesimses horizontal abge— 
schlossenn Jene beschriebenen neun Räume werden durch vier vom Boden 
aufstrebende Pfeiler gestützt, eingefaßt und in drei große perpendikulare 
Abteilungen getrennt. 
Wie man nun der ganzen Masse ein schönes Verhältnis der Höhe 
zur Breite nicht absprechen kann, so erhält sie auch durch diese Pfeiler, 
durch die schlanken Abteilungen dazwischen, im Einzelnen etwas gleich— 
mäßig Leichtes 
Verharren wir aber bei unserer Abstraktion und denken uns diese 
ungeheure Wand ohne Zieraten mit festen Strebepfeilern, in derselben 
die nötigen Offnungen, aber auch nur insofern sie das Bedürfnis fordert; 
gestehen wir auch diesen Hauptabteilungen gute Verhältnisse zu: so 
wird das Ganze zwar ernst und würdig, aber doch immer noch lästig 
unerfreulich und, als zierdelos, unkünstlerisch erscheinen. Denn ein Kunst— 
werk, dessen Ganzes in großen, einfachen, harmonischen Teilen begriffen 
wird, macht wohl einen edlen und würdigen Eindruck, aber der eigent— 
liche Genuß, den das Gefallen erzeugt, kann nur bei Übereinstimmung 
aller entwickelten Einzelnheiten stattfinden 
Hierin aber gerade befriedigt uns das Gebände, das wir betrachten, 
im höchsten Grade: denn wir sehen alle und jede Zieraten jedem Teil, 
den sie schmücken, völlig angemessen sie sind ihm untergebrdnet, sie 
scheinen aus ihm entsprungen Eine solche Mannigfaltigkeit gibt immer 
ein großes Behagen, indem sie sich aus dem Gehörigen herleitet und 
deshalb zugleich das Gefühl der Einheit erregt, und nur in solchem 
Falle wird die Ausführung als Gipfel der Kunst gepriesen
	        
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