Full text: Deutscher Frühling (Band 6 = Klasse 4, [Schülerband])

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dessen Rauschen aber wie Musik des Weltgeistes heraufrauscht. Fern¬ 
ab ins blauer Weite verdämmernd, verschollen wie ein vergessenes 
Kindermärchen, liegt das ebene, bewohnte Land. Nur da und dort aus 
verborgenen Talgründen drängen sich Laute, die an das Menschen¬ 
treiben in der Tiefe erinnern — ein fernes Wagenrasseln, ein pochender 
Hammer, eine rauschende Mühle, ein einzelner Ruf oder Hundegebell, 
aber alles wirr und dumpf. 
„Tief die Welt verworren schallt, oben einsam Rehe grasen." 
Oben einsam Rehe grasen — dort, wo der Sauerklee, die Kreuzblume 
oder der Waldmangold am duftigsten blühen — auf der Bergwiese, 
die unter dem Kuß der Morgensonne am lieblichsten erglüht, und auf 
welche die Sterne am freundlichsten blicken, wenn die Vögel in den 
Zweigen schlummern und träumend zwischen dem Laube sitzen, wenn 
alles zur Ruhe geht, bis die Einsamkeit des Gebirges gleich einer 
Ahnung der Ewigkeit unser Gemüt beschleicht und ein leiser Sehn¬ 
suchtston unsere Seele anklingt: 
„Über allen Wipfeln ist Ruh'!" 
Kein anderes Volk wie das deutsche empfindet so die Poesie des 
Waldlebens, sagt und singt so viel von Jagd und Wald. Kein anderes 
fühlt sich so innig hingezogen, findet in seinem innersten Wesen so viel 
der Natur des Waldes Verwandtes. Im Schoße seiner Urwälder wuchs 
das Volk der Germanen heran; hier holte es sich die unbezwingliche 
Kraft, mit welcher es in Jugendfrische plötzlich aus dem Waldesdunkel 
auf den Schauplatz der Geschichte hervortrat, um seinen weltumgestal- 
tenden Beruf zu erfüllen. Heute noch umschattet unser Bergwald die 
geheimnisvollen Denkmale der dunkeln Vorzeit. In seinem grünen 
Schoße spielten sich aber auch die bedeutsamsten Momente unserer 
älteren Geschichte ab, seit die Waldgründe der westfälischen Berge 
heißes Römerblut tranken und die Schluchten des Thüringer Waldes 
und die Moore der Rhön vom Franken- und Sachsenblute dampften, 
bis zu jenem gesegneten Tage, wo ein Jäger im Harzwalde die deutsche 
Königskrone gewann, die er so siegreich zu tragen wußte. Kein Wunder, 
wenn des Volkes Seele wie der Vogel am liebsten,um Wald und Hain 
schwebt, wenn Dichtung und Sage ihre schönsten Blüten um den deutschen 
Bergwald rankt! Das Nibelungenlied singt vom wildreichen Spessart, 
und wie Siegfried auf der Jagd am Brunnen im dunklen Odenwald 
erschlagen ward, daß des Waldes „Blumen allenthalben vom Blute
	        
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