35. EiiOBesuch Wien im^Jahre 1835.
177
eine königliche Residenz, über die Tiefebene. Und so war die
Überlieferung auf diesem Berge gar uicht unterbrochen: wie
einst in gallischer, wie dann in römischer und wie zuletzt
in fränkischer Zeit, so war in viel tieferem Sinne auch unter
Königin Odilia die Hohenburg Herrscher- und Schirmstätte 5
des Elsasses.
Das ist es, diese wunderbar reiche Vergangenheit, die
mir den Odilienberg zur Perle des Wasgaus macht.
35. Ein Besuch Wiens im Jahre 1835.
Von Helmuth v. Moltke. 10
(Aus einem Briefe an seine Mutter vom 15. Oktober 1835).
Sonnabend, den 10., traf ich in der Morgendämmerung
hier ein und stieg im „Goldenen Lamm" auf der Jägerzeile
ab. Schon früher einmal habe ich hier logiert; das kleine
Lamm ist seitdem ein ungeheurer Palast geworden mit einer 15
prächtigen Aussicht über die Donau und die Bastei nach
dem Stephan. Wien ist eine prächtige Stadt, schon weil
sie krumme Straßen hat, denn nichts ist langweiliger als
solche geraden, langen Straßen. Die krummen hat das Be¬
dürfnis allmählich entstehen lassen; solche Städte haben eine 20
geschichtliche Vorzeit und sprechen das Gemüt an, die nach
dem Lineal gezogenen sind von der Laune eines einzelnen
hervorgerufen und uniformiert. — Die Pracht der Läden
ist außerordentlich, und man ist in beständiger Verführung
zu kaufen. Jedes Haus hat außer der Nummer sein Zeichen, 25
und dieses ist oft sehr schön gemalt, daß man staunend davor
stehen bleibt. Diese Schilder sind zum teil von ganz guten
Meistern, und man könnte sie ohne weiteres in einer Ge¬
mäldesammlung aufhängen. Da steht die „Hofdame" neben
dem „weißen Wolfe", der jüngere „König von Ungarn" und 30
der „Erzbischof von Köln" gegenüber dem „Amor" und der
„Jungfrau von Orleans".
Das Zentrum der Stadt, die Downingstreet von Wien,
ist der sogenannte Graben. An einem Palast siehst du mit
großen Buchstaben angeschrieben „Gunkel". Gunkel ist die 35
erste Notabilität unter den Kleiderfabrikanten, die sonst Schnei-
Hiecke, Deutsch LUebuch, Ausg. A. 6. Teil. Obertertia. 13. Ausl. 12