Full text: [Teil 5 = Obertertia, [Schülerband]] (Teil 5 = Obertertia, [Schülerband])

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9. Philipp Melanchthon. 
Paares waren sehr bescheiden: hundert Gulden. Dafür aber 
hatte Melanchthon in der Gestalt seines aus Heilbronn mit- 
gebrachten Famulus Johann Koch ein Faktotum, wie es die 
moderne Welt nicht mehr kennt: dieser half als Schreiber 
5 und Nachschlager bei den gelehrten Arbeiten seines Professors, 
als Privatsekretär bei der umfangreichen Korrespondenz, er¬ 
las bei der Morgenandacht den Bibelabschnitt vor, er kaufte 
auf dem Markte möglichst billig für die Frau Professorin 
ein, später unterrichtete er die Kinder, korrigierte die Truck- 
10 bogen usw. Die Hausordnung war streng geregelt. Früh 
um 3 Uhr trat der Famulus bei Melanchthon ein. Dann 
wurde gemeinsam geschafft bis 7 Uhr. Danach kam Melanch¬ 
thon zur Morgenandacht in die Fnmilienstube, voll 8 Uhr 
an las er Kolleg, vor den: Mittagessen aber, von 11 bis 
15 12 Uhr ist er wieder in der Kinderstube. Es ist ein schöner 
Zug int Wesen der beiden Reformatoren, daß sie gerade 
der Kinderwelt ein so großes Interesse zuwenden und gerade 
dem kindlichen Wesen ihre Herzen erschließen: mitten unter 
den Stürmen des Augsbllrger Reichstags schrieb Luther vou 
20 der Feste Koburg den köstlichen, wie aus kindlicher Phan¬ 
tasie gebornen Brief an seinen Sohn „Hänsichen"; und dem 
gelehrten Melanchthon blieb es unvergeßlich, daß einst seilt 
Töchterchen Anna, als es ihn eines Morgens in seiner Stu- 
dierstube in Kummer und Tränen fand, diese sorgsam mit 
25 der Schürze getrocknet hatte. 
Mit Rührung stehn wir in der Stube, lvo sich diese kleine 
Szene zugetragen hat, mit Rührung betrachten >vir aber 
auch die Bettstelle an der Wand, wo Melanchthon, dessen 
Lebensabend vielfach durch theologisches Gezänk getrübt wor- 
30 den war, am 10. April 1560 sanft und gelind verschieden 
ist. Auf seinem Schreibtische fand inan danach einen Zettel, 
der uns zeigt, mit welchen Gedanken er sich aus bett Tod 
vorbereitete. Der Zettel trug Die Überschrift: Ursachen, warum 
man sich iticht vor dem Tode entsetzen soll. Darunter stand 
35 linker Hand: „Du wirft von Sünden los werden. Du wirst 
vom Elend ititb von der Wut der Theologen befreit werden." 
Rechter Hand: „Du wirst zum Licht komnten. Du lvirst Gott 
sehen. Du lvirst den Sohn Gottes schauen. Du lvirst die
	        
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