Full text: Für die Klase IV (Teil 3 = Unterstufe, [Schülerband])

Erzählungen. 
den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein 
reiches Schiff und an sein enges Grab. 
3. Drei Tage und zwei Lieder. 
W. O v. Horn, Drei Tage aus Gellerts Leben 
A. 
„Hu, wie kalt! Müssen einheizen, Herr Professor!“ So sprach zu 
dem Dichter Gellert sein Arzt, ein kleiner, dicker Mann. „Wollen Sie 
sich denn ganz verderben? Sie müssen wärmer sitzen.“ Gellert lächelte 
wehmütig. „Mein Holz hat die Schwindsucht,“ sagte er, „und mein 
Geld dazu. Doch, Herr Doktor, seien Sie zufrieden; ich will sorgen, 
sorgen.“ Der Doktor bückte sich über Gellerts Schreibtisch und sagte 
fragend: „Ah, ein neues Lied?“ — Gellert nickte mit verlegenem Gesicht. 
Der Doktor hielt es gegen das mit Eisblumen verzierte Fenster, und 
als er das Lied gelesen, sprach er: „Vortrefflich, ein echt christlich Lied. 
Lieber Herr Professor, das muß ich für meine Frau abschreiben. Morgen 
erhalten Sie's wieder.“ — Dann fühlte der Doktor Gellerts Puls und 
sagte: „Immer noch langsam, das Sitzen ist ein Elend für Sie. Sollten 
einen Gaul haben, sollten reiten! Müssen ein Pferd kaufen!“ „Schon 
wieder kaufen! Haben Sie nicht noch mehr solcher wohlfeilen Rezepte, 
Herr Doktor? Kommen mir jetzt sehr gelegen,“ erwiderte Gellert mit 
traurigem Lächeln. 
Der Doktor entfernte sich wieder. Gellert verfiel in Nachsinnen: 
Gestern hatte er noch dreißig Thaler, heute nichts mehr; sein Holz langte 
höchstens noch acht Tage; Einnahmen waren nicht zu erwarten. Wo 
waren denn die dreißig Thaler von gestern hingekommen? 
In einer abgelegenen kleinen Gasse der Stadt Leipzig war ein 
Häuslein, das gehörte dem reichen Geizhals Neidhardt. Es war ein 
jämmerliches Gebäude, brachte aber noch seine Zinsen. Schon seit 
Jahren wohnte ein armer, gottesfürchtiger Schuhmacher mit Frau und 
vielen Kindern darin. Die Sorge ums tägliche Brot war hier zur 
Herberge, und es ging den Leuten recht kümmerlich. Im Sommer hatten 
sie sich noch so ziemlich durchgeschlagen; aber jetzt war es Winter, 
Kriegszeit, große Kälte und der Verdienst gering; zudem war die Haus— 
miete fällig, die zu dreißig Thalern angelaufen war, und schon hatte 
der geizige Neidhardt mit Hinauswerfen gedroht. Da ging die Frau 
noch einmal zu dem Hartherzigen, aber er kannte kein Erbarmen. Knie— 
fällig, unter tausend Thränen bat sie um Geduld; sie hätten ja immer 
ehrlich bezahlt. Alles war umsonst, es nahte der schreckliche Tag. Der 
Kummer hatte den Ernährer aufs Krankenbett geworfen. Kalte Luft 
drang durch die zerlöcherten Fenster, und sechs unmündige Kinder standen
	        
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