Full text: Prosaband (Teil 9, [Schülerband])

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Grundton der Verkündigung Jesu, und weil diese Barmherzigkeit vom 
Größten bis zum Kleinsten, vom Innersten bis zum äußerlichsten reichen 
soll, so steht neben dem alles beherrschenden Spruch: „vergib uns 
unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldnern," der andere, in 
welchem des Bechers kalten Wassers nicht vergessen ist. Brüderlichkeit 
ist Liebe auf dem Fuße der Gleichheit,- dienende Liebe ist vergeben 
und Geben,- keine schränke soll ihr mehr gezogen sein. Dienende Liebe 
ist aber auch die Betätigung der Liebe zu Gott. 
Indem Jesus selbst diese Liebe darstellte und Kraft und Leben 
werden ließ, lernten seine Jünger das Größte und Seligste, was in 
der Religion gelernt werden kann, nämlich an die Liebe Gottes glauben. 
Zum „Vater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes" wurde ihnen 
das Wesen, das Himmel und Lrde geschaffen hat, kein schwanken gibt 
es darüber mehr in den apostolischen und altchristlichen Zeugnissen — 
und nun erst trat in der Menschheit das Zeugnis hervor, dem nichts 
mehr übergeordnet werden kann: Gott ist die Liebe. Die erste große, 
einheitliche Zusammenfassung der neuen Religion, die, welche der vierte 
Evangelist gegeben hat, ist ganz und ausschließlich auf die Liebe ge¬ 
stellt — „Lasset uns ihn lieben,- denn er hat uns zuerst geliebt 
„Rlso hat Gott die Welt geliebt;" „Tin neu Gebot gebe ich euch, daß 
ihr euch untereinander liebt" — und das Größte, Gewaltigste und 
Tiefste, was der Rpostel Paulus geschrieben hat, ist der Hymnus, der 
mit den Worten beginnt: „Wenn ich mit Menschen- und Lngelzungen 
redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Lrz oder 
eine klingende Schelle." Die neue Sprache, die den Thriften auf die 
Lippen gelegt wurde, war die Sprache der Liebe. 
Ts war nicht nur eine Sprache; es war Kraft und Tat: sie be¬ 
trachteten sich wirklich als Brüder und Schwestern und handelten danach. 
Wir haben dafür zwei vollgültige Zeugnisse aus heidnischem Munde. 
Daß sie dem Ende des 2. Jahrhunderts angehören, macht sie um so 
wertvoller. Lucian sagt von den Christen: „Ihr erster Gesetzgeber 
hat ihnen die Überzeugung beigebracht, daß sie alle untereinander 
Brüder seien; sie entwickeln eine unglaubliche Rührigkeit, sobald sich 
etwas ereignet, was ihre gemeinschaftlichen Interessen berührt; nichts 
ist ihnen alsdann zu teuer," und Tertullian bemerkt: „Die Sorge für 
die hilflosen, die wir üben, unsere Liebestätigkeit, ist bei unseren Gegnern 
zu einem Merkmal für uns geworden: ,Siehe nur,' sagen sie, .wie sie 
sich untereinander lieben' — sie selber hassen sich nämlich unterein¬ 
ander — ,und wie einer für den andern zu sterben bereit ist'; sie 
selber wären eher bereit, sich gegenseitig umzubringen." Das Wort 
hatte sick also wirklich erfüllt: „Dabei wird jedermann erkennen, daß 
ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt." 
Vas Evangelium wurde so zu einer sozialen Botschaft. Die predigt, 
die das innerste Wesen des Menschen ergriff, ihn aus der Welt heraus-
	        
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