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Grundton der Verkündigung Jesu, und weil diese Barmherzigkeit vom
Größten bis zum Kleinsten, vom Innersten bis zum äußerlichsten reichen
soll, so steht neben dem alles beherrschenden Spruch: „vergib uns
unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldnern," der andere, in
welchem des Bechers kalten Wassers nicht vergessen ist. Brüderlichkeit
ist Liebe auf dem Fuße der Gleichheit,- dienende Liebe ist vergeben
und Geben,- keine schränke soll ihr mehr gezogen sein. Dienende Liebe
ist aber auch die Betätigung der Liebe zu Gott.
Indem Jesus selbst diese Liebe darstellte und Kraft und Leben
werden ließ, lernten seine Jünger das Größte und Seligste, was in
der Religion gelernt werden kann, nämlich an die Liebe Gottes glauben.
Zum „Vater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes" wurde ihnen
das Wesen, das Himmel und Lrde geschaffen hat, kein schwanken gibt
es darüber mehr in den apostolischen und altchristlichen Zeugnissen —
und nun erst trat in der Menschheit das Zeugnis hervor, dem nichts
mehr übergeordnet werden kann: Gott ist die Liebe. Die erste große,
einheitliche Zusammenfassung der neuen Religion, die, welche der vierte
Evangelist gegeben hat, ist ganz und ausschließlich auf die Liebe ge¬
stellt — „Lasset uns ihn lieben,- denn er hat uns zuerst geliebt
„Rlso hat Gott die Welt geliebt;" „Tin neu Gebot gebe ich euch, daß
ihr euch untereinander liebt" — und das Größte, Gewaltigste und
Tiefste, was der Rpostel Paulus geschrieben hat, ist der Hymnus, der
mit den Worten beginnt: „Wenn ich mit Menschen- und Lngelzungen
redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Lrz oder
eine klingende Schelle." Die neue Sprache, die den Thriften auf die
Lippen gelegt wurde, war die Sprache der Liebe.
Ts war nicht nur eine Sprache; es war Kraft und Tat: sie be¬
trachteten sich wirklich als Brüder und Schwestern und handelten danach.
Wir haben dafür zwei vollgültige Zeugnisse aus heidnischem Munde.
Daß sie dem Ende des 2. Jahrhunderts angehören, macht sie um so
wertvoller. Lucian sagt von den Christen: „Ihr erster Gesetzgeber
hat ihnen die Überzeugung beigebracht, daß sie alle untereinander
Brüder seien; sie entwickeln eine unglaubliche Rührigkeit, sobald sich
etwas ereignet, was ihre gemeinschaftlichen Interessen berührt; nichts
ist ihnen alsdann zu teuer," und Tertullian bemerkt: „Die Sorge für
die hilflosen, die wir üben, unsere Liebestätigkeit, ist bei unseren Gegnern
zu einem Merkmal für uns geworden: ,Siehe nur,' sagen sie, .wie sie
sich untereinander lieben' — sie selber hassen sich nämlich unterein¬
ander — ,und wie einer für den andern zu sterben bereit ist'; sie
selber wären eher bereit, sich gegenseitig umzubringen." Das Wort
hatte sick also wirklich erfüllt: „Dabei wird jedermann erkennen, daß
ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt."
Vas Evangelium wurde so zu einer sozialen Botschaft. Die predigt,
die das innerste Wesen des Menschen ergriff, ihn aus der Welt heraus-