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rücksichtslos, derb wie die neue Großstadtkultur. Die alte war für eine
gewisse Solidität ihrer „Höhle", Trockenheit und Reinlichkeit gewesen.
Die neue nahm Feuchtigkeit als eine Pioniernotwendigkeit des Weltfort¬
schritts, sie stieg in die Keller und vom Hauskeller zuletzt in die Großstadt¬
keller: in das ganz düstere unterirdische Kanalnetz.
Die Pariser Belagerungsratte taucht hier auf, die vielgefürchtete
„Kanalratte", eine Weile die Tyrannin geradezu eines kolossalen Großstadt¬
organs, die der Mensch aus seinem eigenen kunstvollen Werk nicht wieder
herausbringen kann. Aber auch ihr Alexanderpunkt in der Welteroberung
ist überschritten. Gegen sie wendet sich diesmal nicht die Legende, sondern
die Wissenschaft, und die wird sicher mit ihr fertig werden. Es hilft ihr
nichts mehr, daß sie allmählich auch noch anfängt, ihre Farben zu wechseln
und nachzudunkeln gleich der alten Hausratte, die, wenn nicht alle Anzeichen
trügen, ganz vorzeiten ebenfalls einmal braun war und erst in der Höhle
des mittelalterlichen Hauses schwarz geworden ist.
Je heller das Haus der eleganten Großstadtteile wird, und je mehr
die teuren Mieten den Luxus einer „Rumpelkammer" einschränken, um so
schneller geht es auch mit der Hausmaus abwärts. Kein Mensch kennt
ihre Herkunft. Auch sie war auf einmal da, eine schier unzertrennbare
Genossin des Menschen. Ihre Urheimat wird wohl nie mehr festzulegen
sein, doch ist es schwerlich, wie bei der Ratte, die asiatische Steppe gewesen.
Die „Erfindung" der Stadt war aber auch für sie ein Ereignis ohne¬
gleichen. Ihre Idealwelt war dann das alte, winkelige Stadthaus mit
morschem Holzwerk, die alte, enge, finstere Gasse, die ohne Mühe über¬
quert wurde. Manchmal, wenn ich heute durch den elektrischen Sonnen¬
glanz der Leipziger Straße wandle und als Vision der Zukunft eine Welt¬
stadt sehe, bloß noch aus Eisen und Glas, unzählige Stockwerke überein¬
ander, mit Aufzügen statt Treppen, und alles nächtlich durchstutet vom
blauen Strahl, tags vom unerbittlich grellen Licht — dann denke ich an
die Maus in ihrer letzten Phase: in der Wohnungsnot.
Sicherlich wird es einmal ein Museum ausgestorbener Großstadttiere
in der Großstadt selbst geben. Ob auch der Sperling dann dort ist?
Als Straßentier im heutigen Sinne höchst wahrscheinlich.
Welcher Abstand: zwischen der afrikanischen und indischen Stadt, wo
ein so riesiger Vogel, wie der Marabustorch, in Scharen die Straßen
belebt und doch nicht mit dem ganzen Berg von Abfällen fertig werden
kann, den jeder Tag neu anhäuft, und der Weltstadtstraße, die in ihrer
polizeilich geregelten Reinlichkeit schließlich nicht einmal mehr ein Spätzlein
sättigen kann!
Heute ist von allen Tieren der Großstadt der Spatz mir das interessanteste.
Nie ist er im ganzen zahm geworden, obwohl er sich im einzelnen Fall
sehr gut zähmen läßt, und obgleich die Freude aller sinnigen Menschen¬
kinder an diesen Herrgottsnärrchen immer groß genug gewesen ist. Die