Full text: [Siebenter Teil = 3. Klasse, [Schülerband]] (Siebenter Teil = 3. Klasse, [Schülerband])

214 
rücksichtslos, derb wie die neue Großstadtkultur. Die alte war für eine 
gewisse Solidität ihrer „Höhle", Trockenheit und Reinlichkeit gewesen. 
Die neue nahm Feuchtigkeit als eine Pioniernotwendigkeit des Weltfort¬ 
schritts, sie stieg in die Keller und vom Hauskeller zuletzt in die Großstadt¬ 
keller: in das ganz düstere unterirdische Kanalnetz. 
Die Pariser Belagerungsratte taucht hier auf, die vielgefürchtete 
„Kanalratte", eine Weile die Tyrannin geradezu eines kolossalen Großstadt¬ 
organs, die der Mensch aus seinem eigenen kunstvollen Werk nicht wieder 
herausbringen kann. Aber auch ihr Alexanderpunkt in der Welteroberung 
ist überschritten. Gegen sie wendet sich diesmal nicht die Legende, sondern 
die Wissenschaft, und die wird sicher mit ihr fertig werden. Es hilft ihr 
nichts mehr, daß sie allmählich auch noch anfängt, ihre Farben zu wechseln 
und nachzudunkeln gleich der alten Hausratte, die, wenn nicht alle Anzeichen 
trügen, ganz vorzeiten ebenfalls einmal braun war und erst in der Höhle 
des mittelalterlichen Hauses schwarz geworden ist. 
Je heller das Haus der eleganten Großstadtteile wird, und je mehr 
die teuren Mieten den Luxus einer „Rumpelkammer" einschränken, um so 
schneller geht es auch mit der Hausmaus abwärts. Kein Mensch kennt 
ihre Herkunft. Auch sie war auf einmal da, eine schier unzertrennbare 
Genossin des Menschen. Ihre Urheimat wird wohl nie mehr festzulegen 
sein, doch ist es schwerlich, wie bei der Ratte, die asiatische Steppe gewesen. 
Die „Erfindung" der Stadt war aber auch für sie ein Ereignis ohne¬ 
gleichen. Ihre Idealwelt war dann das alte, winkelige Stadthaus mit 
morschem Holzwerk, die alte, enge, finstere Gasse, die ohne Mühe über¬ 
quert wurde. Manchmal, wenn ich heute durch den elektrischen Sonnen¬ 
glanz der Leipziger Straße wandle und als Vision der Zukunft eine Welt¬ 
stadt sehe, bloß noch aus Eisen und Glas, unzählige Stockwerke überein¬ 
ander, mit Aufzügen statt Treppen, und alles nächtlich durchstutet vom 
blauen Strahl, tags vom unerbittlich grellen Licht — dann denke ich an 
die Maus in ihrer letzten Phase: in der Wohnungsnot. 
Sicherlich wird es einmal ein Museum ausgestorbener Großstadttiere 
in der Großstadt selbst geben. Ob auch der Sperling dann dort ist? 
Als Straßentier im heutigen Sinne höchst wahrscheinlich. 
Welcher Abstand: zwischen der afrikanischen und indischen Stadt, wo 
ein so riesiger Vogel, wie der Marabustorch, in Scharen die Straßen 
belebt und doch nicht mit dem ganzen Berg von Abfällen fertig werden 
kann, den jeder Tag neu anhäuft, und der Weltstadtstraße, die in ihrer 
polizeilich geregelten Reinlichkeit schließlich nicht einmal mehr ein Spätzlein 
sättigen kann! 
Heute ist von allen Tieren der Großstadt der Spatz mir das interessanteste. 
Nie ist er im ganzen zahm geworden, obwohl er sich im einzelnen Fall 
sehr gut zähmen läßt, und obgleich die Freude aller sinnigen Menschen¬ 
kinder an diesen Herrgottsnärrchen immer groß genug gewesen ist. Die
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.