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scheue, wilde Felsentaube hat der Mensch aus ihrer natürlichen Höhle
herausgeholt und als Haustier an sich gewöhnt, die Katze sogar ist bedingt
Zahm geworden: der Sperling in der gleichen Zeit nicht. Aber sein Lernen,
sein eigenes unbeeinflußtes Lernen ist darum doch Hand in Hand gegangen
mit der ansteigenden Kultur.
Er hat ein großes Sündenregister auf sich, der gute Spatz, — wer
will es leugnen? Er ist keineswegs so nützlich als Maikäferjäger und
sonst als Ungeziefertilger, wie es eine Zeitlang seinen Gönnern unter den
Vogelkundigen schien. In Nordamerika, wo man ihn ob dieses auf Treu
und Glauben genommenen Nutzens künstlich aus Europa eingeführt hat,
ist er zum Lohne aller Liebe zur wahren Landplage geworden. Dort wie
bei uns nimmt er viel besseren Vögeln die ohnehin heute so knappen Nist¬
gelegenheiten fort. Er verscheucht uns den lieben Rotschwanz, seit alter
Germanenzeit ein segenbringendes Hausgeistchen des Menschenheims. Selbst
den Star bedrängt er durch seine Masse.
Aber wer ihn vom Maßstab der Intelligenz aus nimmt, der muß ihn
bewundern, muß ihn schließlich lieben in seiner Eigenart. Alle Höhe kleiner
Vogelklugheit steckt in ihm. Selbst jener Schönheitssinn, den wir gemeiniglich
nur in fernen Landen, beim Paradiesvogel Neuguineas und beim Lauben¬
vogel des australischen Busches suchen, ist ihm nicht fremd. Kleinschmidt,
also ein unanfechtbarer Kenner, hat beobachtet, wie er einen Nistkasten,
den er besetzt, mit einem Stengel blauer Hyazinthen geschmückt hatte.
Sein Triumph aber ist die Großstadt. Er bildet in ihr den Gipfel
der Eroberung gerade des lichtesten, öffentlichen Gebiets, der hellichten
Straße im Gegensatz zur Höhle.
Man muß das Bild nebeneinander sehen: eines wackeren Provinzlers
unter uns Kulturmenschen selbst, der zum erstenmal etwa in die Wogen
des Berliner Alexanderplatzes sich geworfen fühlt, eingekeilt zwischen die
donnernden Kolosse der elektrischen Wagen, mit jedem ängstlichen Schritt
tastend auf ein neues, gefahrdrohendes Geleise, betäubt vom Lärm, ver¬
zweifelt, hilflos — und dazu eines waschechten Großstadtsperlings, der
gemächlich wie ein uralt erfahrener und gewandter Weltfahrer in diesem
wirbelnden Ozean der hastenden Kultur beiseite — nicht fliegt, sondern
trippelt, wenn das Gebirge eines solchen Straßenbahnwagens sich gegen
ihn heranwälzt. Nur ein, zwei Menschenschritte weit trippelt er fort,
keinen Zoll mehr, als unumgänglich nötig ist, nicht die Spur nervös —
wie kann man denn bloß, es ist ja immer dasselbe, und je größer der
rollende Berg, desto sicherer, daß er auf seinen Schienen vorbeischmettert,
ohne von mir besonders Notiz zu nehmen. — Dabei läßt der ausgepichte
Großstadtspatz mitten im Getümmel und Ausweichen auch nicht eine
Sekunde ab von seinem Keifen, wenn er gerade recht dabei ist — er
wechselt ein dutzendmal in wenigen Augenblicken das Geleise, um Platz
zu machen, schwätzt und schwadroniert aber unentwegt dabei weiter.