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III. Bürgerliche Dichtung im ausgehenden Mittelalter.
O
6. Literaturproben zum 14.—16. Jahrhundert.
1. Meistergesang?)
Die ritterlich-höfische Lyrik findet ihre Fortsetzung im Meistergesang.
Fahrende Sänger bürgerlichen Standes erlemten den höfischen Vers- und
Strophenbau und übertrugen ihn, seßhaft geworden, in die Handwerkerkreise
der Städte. Meistersänger nannten sie sich in bewußter Absonderung von der
Masse der fahrenden Spielleute. Der Meistergesang erfuhr eine förmliche
Gliederung in sogenannten Meistersingerschulen nach Art der Handwerkszunft.
Biblische und allegorisch-lehrhaft gedeutete geschichtliche und sagenhafte Stoffe
wurden nach genau feststehenden Regeln und Gesetzen gedichtet, die in der
„Tabulatur" zusammengefaßt und schulmäßig lembar waren. Die Mitglieder
der Meistersingerschulen zerfielen in fünf Klassen: Schüler war, wer noch die
Regeln lernte, Schulfreund, wer sie beherrschte, Sänger, wer Meisterlieder vor¬
trug, Dichter, wer nach den von Meistem erfundenen Tönen dichtete, Meister,
wer selbst ein eigenes bar, d. h. eine neue Strophenform erfand. Die Strophe
(Gesätz) war dreiteilig: Zwei Stollen und der Abgesang, gemäß dem Bau des
Minnegesangs. Aber das Gefühl für den Rhythmus der Sprache war ab¬
handen gekommen; man zählte mechanisch die Silben. Ebensowenig besaß
man in diesen Kreisen eine poetische Ausdrucksweise und geschmackvolle Dar¬
stellung.
a. Lin Meisterlich von Hans Sachs (alte Form).
Aus Zernial, Hans Sachs. Bielefeld. 1912.
Die frau Sorg und frau Faulkeit.
In der Spruchweis Hans Sachsen. 2. Mai 1542.
1. Eins morgens frü vor tage
Ich ungeschlafen läge,
Ein dürres weib einträte,
Stunt zu meiner bettstate,
Die was frau Sorg genennet,
Mit Worten mich anrennet,
Sprach: „wilt heut nit aufwachen?
Schauen zu deinen fachen?
Weib und kint zu erneren
Und deine reichtum meren
Durch emsige arbeite?
Auf! auf! auf, es ist zeite."
Zu meinem bett wart herschleichen
Ein feistes weib dergleichen,
Die tet frau Sorgen strafen
Und sprach: „ei, laß ihn schlafen
Und ruen in seim bette;
Wan er lang reichtum hette.
Kein rast noch ru darinnen,
Wer wolt reichtum gewinnen!"
2. Sorg sprach zu mir in zoren:
„Ste auf, sunst bist verloren!
Wiltu der Faulkeit Hulden,
So mustu armut dulden.
Faulkeit tregt auf dem rücke
Wol mengerlei Unglücke."
Faulkeit sprach: „fleuch frau Sorgen,
Schlaf mit m alle morgen!
Maniger arbeit sere
Und hat doch nichts destmere.
Wem der her günt sein speise,
Geit ers schlafender weise."
Sorg sprach: „die faulen hende
Verarmen an dem ende;
Emsig arbeit dergleiche
*) Siehe E. Otto, Der Meistergesang. Porger-Lemp VII. Nr. 90.
Lit.: Aug. Hagen, Norika, histor. Novelle. Reclam 5213/14.