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Erzählende Prosa.
Bette, bis der Tag nahet. Da erscheint Rüdiger, um die entscheidende
Antwort einzuholen, aber alles erneuete Bitten des edlen Markgrafen
vermag sie nicht zu bewegen, bis ihr Rüdiger unter vier Augen ver—
heißt: „und hättet Ihr im Hunnenlande Niemand als mich, meine ge—
treue Mage und Mannen, es soll Jeder, der Euch ein Leides thut, es
durch unsere Hand schwer entgelten.“ Da erhebt sich die Leidmüthige,
plötzlich auflebend in Gedanken der Rache: „so schwört mir einen Eid,
daß, es mag mir Jemand zufügen, was es sei, Ihr der Nächste sein
wollt, der mein Leid räche.“ Und Rüdiger schwört den Eid. Welche
blutige Gedanken in dem zerrissenen Herzen der Unglücklichen lauern,
das weiß der Arglose nicht; er weiß es nicht, daß er mit diesem Eide
seinem lieben Kinde unauslöschliches Herzeleid, fseinen Mannen alle—
sammt den Untergang und sich selbst einen zwiefachen Tod geschworen
hat. — Da reicht Kriemhild ihm die Hand der Zufage, und in kurzem
zieht sie mit Rüdiger dahin den weiten Weg nach dem fernen Often
in das fremde Heunenland. Ihre Brüder geben ihr das Geleite bis an die
Donaustadt Veringen; dann zieht sie in Rüdigers Geleit, losgetrennt von
der Heimath und von der lieben Mutter, losgetrennt von Brüdern und
Verwandten, aber nicht losgetrennt von der Erinnerung an das in der
Heimath unter Brüdern und Magen Erlebte, vereinsamt weiter über die
Ens, über Ewerdingen und Ens nach Burg Bechlarn an der Donau, wo
sie von Frau Gotelind liebreich als ihre neue Herrin empfangen wird.
Doch Heimath wurde ihr die Fremde niemals. Sieben Jahr sitzt
sie mit Etzel unter der Krone des Hunnenlandes, da genest sie eines
Sohnes, der in der Taufe Ortlieb genannt wird, und nochmals ver—
streichen sechs Jahre, so daß sechsundzwanzig Jahre dahingegangen sind,
seitdem Siegfried am Lindenbruünnen im Odenwald gefallen ist — da
kommt die Zeit der Rache.
„Lange Jahre bin ich,“ so spricht sie einst zu Etzel, „lange Jahre
bin ich nun hier in der Fremde, und noch hat mich von meinen hohen
Magen Niemand hier besucht; noch länger darf ich die Entfernung von
meinen Verwandten nicht ertragen, denn schon sagen sie hier, da Nie—
mand der Meinigen mich aufsucht, ich sei eine Flüchtlingin und Ver—
bannte, ohne Verwandte und Heimath.“ Etzel ist bereit, zu einem Wieder—
sehen mit ihren Brüdern, Magen und Mannen ihr behülflich zu sein,
und sie bittet ihn, ihre Brüder in Worms zu einem Feste laden zu
wollen. Der König sendet ungesäumt die sagen- und gesangeskundigen
Helden seines Hofes, Werbel und Swemlin, als Boten nath Worms,
um die Burgundenkönige mit ihrem Mannengefolge zu den nächsten
Sonnewenden nach Ungarn auf die Etzelnburg einzuladen. Kriemhild
befiehlt ihm noch besonders, ja darauf zu dringen, daß alle ihre Ver—
wandten kommen sollten.
Als die Boten zu Worms anlangen, herrscht doch siebentägiges
Bedenken, ob die Einladung soll angenommen werden. Nur Hagen wider—
setzt sich der Annahme ernstlich: „Ihr habt euch selbst Feindschaft ange⸗
kündigt; ihr wißt doch, was wir Kriemhild gethan haben, daß ich mit
meiner Hand ihr ihren Mann erschlug. Wie dürfen wir es wagen, in
Etzels Land zu reisen? Dort verlieren wir Ehre und Leben — von
langer Rache ist König Etzels Weib.“ Aber die Warnung, der sich noch
einer der Helden, Rumold, anschließt, wird überhört. „Fürchlet ihr den