Full text: Deutsches Lesebuch für mittlere Gymnasialklassen und Realschulen

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Gedichte epischen Charaklers. 
„Wenn ich zum andern blase, so eile Jung und Alt, 
Die Rosse soll er satteln und zäumen alsobald 
Und so bereit sich halten, bis ich den Tag verspüre, 
Daß Niemand seine Arbeit, wenn die Zeit zum Sturme kommt, verliere.“ 
Sie sprachen, daß sie gerne thäten was er rieth: 
Was er da schöner Frauen von ihren Freunden schied 
In den scharfen Streiten mit tiefen Herzenswunden! 
Sie harrten mit Verlangen, bis die finstre Nacht war hingeschwunden. 
„Wenn ich zum dritten blase, ihr lieben Freunde mein, 
So sollt ihr wohlgewaffnet all zu Rosse sein; 
Dennoch eilt, ihr Degen, eher nicht zum Streite, 
Bis ihr mich seht gewaffnet bei der schönen Hilde Banner reiten.“ 
Da legten sich die Müden auf den Sand zu Thal. 
Sie waren doch gar nahe vor Ludwigens Saal, 
Wenn es bei Nacht nicht wäre, sie sähen ihn wohl alle. 
Die unverzagten Helden lagen stille da und sonder Schallen. 
Schon war empor gegangen der lichte Morgenstern: 
Da trat ein schönes Mädchen an ein Fenster dort so fern: 
Sie spähte, wann es wäre, daß der Tag erschiene, 
Auf daß sie mit der Märe sich bei Gudrunen großen Lohn verdiene. 
Da sah die edle Jungfrau des Morgens Dämmerschein, 
Und bei des Wassers Schimmer, wie es mußte sein, 
Sah sie Helme leuchten und viel der lichten Schilde: 
Die Burg war umsessen: von Waffen glänzte ringsum das Gefilde. 
Da ging sie schnell hinwieder, wo sie die Herrin fand: 
„Wachet, edle Jungfrau,“ sprach sie, „all dies Land 
Und diese starke Veste hält der Feind umsessen: 
Daheim unsre Freunde haben doch uns Arme nicht vergessen.“ 
Gudrun die hehre von dem Lager sprang 
Und eilte nach dem Fenster; der Jungfrau sprach sie Dank 
Dieser lieben Märe: die würd' ihr Reichthum schicken. 
Nach ihres Herzens Schwere sah man sie fleißig nach den Freunden blicken. 
Da sah sie reiche Segel schwanken auf der See: 
Da sprach die Jungfrau edel: „Nun wird mir erst noch weh; 
O weh, ich Gottverlassne, daß ich geboren bin! 
Manchem kühnen Manne wird heut der Tod zum Gewinn.“ 
Das Volk, als sie das redete, lag noch zumeist und schlief; 
Doch kräftig von der Zinne der Wächter Ludwigs rief: 
„Wohlauf, ihr stolzen Recken, wohlauf, Herr, zu den Waffen: 
Ihr kühnen Normannen, allzulang, mich dünkt, habt ihr geschlafen.“
	        
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