v. Tschudi: Naturbilder aus der Alpenwelt.
143
das Schneebällchen, das von einem Strauch fällt und fortrollt, oder
irgend eine Lufterschütterung bringt dies ganze neue obere Schneefeld
in Gang; es rutscht erst langsam in einem Stücke fort, reißt dann die
tieferen Massen mit, wallt über, stiebt auf, teilt sich. Das Dröhnen
der Massen durch die klare Luft und der entstehende Windzug führt
von allen Seitenhalden neue, kleinere Stürze herbei. Mit rasender
Eile, immer furchtbarerer Wucht und dröhnendem Gepolter stürzt der
Hauptstrom der Tiefe zu, hat schon die Holzregion als breite, hoch¬
getürmte Sturmflut erreicht, reißt Steine, Büsche mit sich und bricht
krachend in den Wald. Du siehst nichts als donnernde und sprühende
Nebel; unendliche Schneestaubwolken verhüllen den Gang des Stromes,
dessen ganze Bahn raucht; aber die Bäume krachen, das Felsgestell bebt,
die Zinnen hallen im Donner des Sturmes lange, bange Minuten nach
— noch ein Schlag und zitterndes, knirschendes, dumpfes, unaussprech¬
liches Gepolter — dann ist es stille. Ein schneidender Luftzug hat den
stolzen Gang der Lawine begleitet. Du schaust ihr nach; geradeaus,
über zwei Stunden lang, hunderte von Schritten breit, liegt ihr frisches
Kanalbett - durch Alpenweiden, Wälder, Wiesen bis an den Bach tief
unten im Thal; noch rollen einzelne Ballen und rutschen kleine Stürze
nach, noch schwankt der durchbrochene Hochwald im Winde der Ver-
heererin. Vom Thale aus gesehen, ist der Sturz malerischer; doch
entdeckt man selten die Anfänge. Der sich ausbreitende, mit Riesen¬
kräften wachsende, wasserfallgleich über die Felswände stürzende, hoch¬
aufrauchende Strom, wie er sich oft teilt und wieder vereinigt, die
Seitenarme aufnimmt, ein wallendes, flutendes, glänzendes Meer im
pfeilschnellen Schusse mit allen weitreichenden Seitenwirkungen, gewährt
ein unaussprechlich großartiges Bild. Wenige Minuten — und die
Tochter der Hochalp liegt nach einem schauerlichen Tanze friedlich und
bewegungslos in der Thalwanne. Vier- bis fünftausend Fuß hat sie
in siegreichem Donnergange zurückgelegt und ihren Leib majestätisch in
die fliegenden weißen Gewänder gehüllt, um bald im Schoße des Thal-
bettes mit gelösten Gliedern zu ruhen. Der Bewohner der Ebene macht
sich selten einen richtigen Begriff von den wunderbaren Sturmbewegungen,
von denen eine solche Staublawine begleitet ist. Der Luftzug strömt stoß-
oder schußweise rechts und links etliche hundert Schritt weit neben dem
Lawinenzuge, schießt aber in seiner ganzen Breite unten über die liegen
bleibende Schneemasse hinaus, prallt oft an der gegenüberliegenden Berg¬
wand an oder verliert sich in der Weite des Thales, wo er noch auf
eine halbe Stunde weit die Fenster und Thüren der Wohnungen er¬
schüttert und die Kamine von den Dächern hebt. In den Wäldern reißt
dieser Sturm auf beiden Seiten des Schneestromes oft 1000 bis 2000
der stärksten, ältesten Bäume nieder, hebt Menschen und Tiere auf und
schleudert sie in die Tiefe, zerbricht im Thale noch weit vom Lagerplatze
der Lawine die gewaltigsten Nuß- und Apfelbäume und Ahorne, legt
schwere Frachtwagen auf die Seite und reißt ganze Ställe zusammen.
Doch ist diese Luftstreichung ziemlich enge abgegrenzt, und außerhalb
ihrer scharf gezogenen Linie schwankt kein Blatt. Wunderbare Schicksale