Full text: [Cursus 2, [Schülerband]] (Cursus 2, [Schülerband])

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Da wandelte die gut gekleidete, schöne Frau durch das Gedränge, 
winkte Marie zu sich und ging mit ihr unter einen einsamen Lauben¬ 
gang. „Du mußt uns verlassen, mein geliebtes Kind," sagte sie; „der 
König will auf zwanzig Jahre und vielleicht auf länger sein Hvflager 
hier halten. Nun wird sich Fruchtbarkeit und Segen weit in die Land¬ 
schaften verbreiten, am meisten hier in der Nähe: alle Brunnen und 
Bäche werden ergiebiger, alle Aecker und Gärten reicher, der Wein edler, 
die Wiese fetter und der Wald frischer und grüner; mildere Luft weht, 
kein Hagel schadet, keine Ueberschwemmung droht. Nimm diesen Ring 
und gedenke unser; doch hüte dich, irgend Wem von uns zu erzählen, 
sonst müssen wir diese Gegend fliehen, und Alle umher, so wie du selbst, 
entbehren dann das Glück und die Segnungen unserer Nähe. Noch 
einmal küsse deine Gespielin und lebe wohl!" Sie traten heraus, 
Zerina weinte. Marie bückte sich, sie zu umarmen, und darauf trennten 
sie sich. Schon stand sie auf der schmalen Brücke; die kalte Luft wehte 
hinter ihr aus den Tannen, das Hündchen bellte auf das herzhafteste 
und ließ sein Glöckchen ertönen. Sie sah zurück und eilte in das Freie, 
weil die Dunkelheit der Tannen, die Schwärze der verfallenen Hütte, 
die dämmernden Schatten sie mit ängstlicher Furcht erfüllten. 
„Wie werden sich meine Eltern meinethalben in dieser Nacht 
geängstigt haben!" sagte sie zu sich selbst, als sie auf dem Felde stand, „und 
ich darf ihnen doch nicht erzählen, wo ich gewesen bin, und was ich 
gesehen habe; auch würden sie mir nimmer glauben." Zwei Männer gingen 
an ihr vorüber, die sie grüßten, und sie hörte hinter sich sagen: „Das 
ist ein schönes Mädchen! Wo mag sie wohl her sein?" Mit eiligeren 
Schritten näherte sie sich dem elterlichen Hause; aber die Bäume, die 
gestern voller Früchte hingen, standen heute dürr und ohne Laub; das 
Haus war anders angestrichen und eine Scheune daneben erbaut. Marie 
war in Verwunderung und dachte, sie sei im Traume. In dieser Ver¬ 
wirrung öffnete sie die Thür des Hauses und hinter dem Tische saß ihr 
Vater zwischen einer unbekannten Frau und einem fremden Jünglinge. 
„Mein Gott, Vater," rief sie aus, „wo ist denn die Mutter?" „Die 
Mutter," sprach die Frau ahnend und stürzte hervor. „Ei, du bist 
doch wohl nicht — ja freilich, freilich, bist du die verlorne, die todt¬ 
geglaubte, die liebe, einzige Marie." Sie hatte sie gleich an einem kleinen, 
braunen Male unter dem Kinn, an den Augen und der Gestalt erkannt. 
Alle umarmten sie, Alle waren freudig bewegt, und die Eltern vergossen 
Thränen. Marie verwunderte sich, daß sie fast zum Vater hinaufreichte; 
sie begriff nicht, wie die Mntter so verändert und gealtert sein konnte; 
sie fragte nach deni Namen des jungen Menschen. „Das ist ja unsers 
Nachbars Andres," sagte Martin, „wie kommst du nur nach sieben langen 
Jahren so unvermuthet wieder? Wo bist du gewesen? Warum hast 
du denn gar Nichts von dir hören lassen?" „Sieben Jahre?" sagte 
Marie und konnte sich in ihren Vorstellungen und Erinnerungen nicht 
wieder zurechtfinden; „sieben ganze Jahre?" „Ja, ja," sagte Andres 
lachend und schüttelte ihr treuherzig die Hand; „ich habe gewonnen, 
Mariechen, ich bin schon vor sieben Jahren an dem Birnbäume und 
wieder zurück gewesen, und du, Langsame, kommst nun heut erst an!" 
Man fragte sie von neuem, man drang in sie: doch sie, des Verbote- 
Oltrogge, Leseb. II. I2te Aufl. 7
	        
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