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Da wandelte die gut gekleidete, schöne Frau durch das Gedränge,
winkte Marie zu sich und ging mit ihr unter einen einsamen Lauben¬
gang. „Du mußt uns verlassen, mein geliebtes Kind," sagte sie; „der
König will auf zwanzig Jahre und vielleicht auf länger sein Hvflager
hier halten. Nun wird sich Fruchtbarkeit und Segen weit in die Land¬
schaften verbreiten, am meisten hier in der Nähe: alle Brunnen und
Bäche werden ergiebiger, alle Aecker und Gärten reicher, der Wein edler,
die Wiese fetter und der Wald frischer und grüner; mildere Luft weht,
kein Hagel schadet, keine Ueberschwemmung droht. Nimm diesen Ring
und gedenke unser; doch hüte dich, irgend Wem von uns zu erzählen,
sonst müssen wir diese Gegend fliehen, und Alle umher, so wie du selbst,
entbehren dann das Glück und die Segnungen unserer Nähe. Noch
einmal küsse deine Gespielin und lebe wohl!" Sie traten heraus,
Zerina weinte. Marie bückte sich, sie zu umarmen, und darauf trennten
sie sich. Schon stand sie auf der schmalen Brücke; die kalte Luft wehte
hinter ihr aus den Tannen, das Hündchen bellte auf das herzhafteste
und ließ sein Glöckchen ertönen. Sie sah zurück und eilte in das Freie,
weil die Dunkelheit der Tannen, die Schwärze der verfallenen Hütte,
die dämmernden Schatten sie mit ängstlicher Furcht erfüllten.
„Wie werden sich meine Eltern meinethalben in dieser Nacht
geängstigt haben!" sagte sie zu sich selbst, als sie auf dem Felde stand, „und
ich darf ihnen doch nicht erzählen, wo ich gewesen bin, und was ich
gesehen habe; auch würden sie mir nimmer glauben." Zwei Männer gingen
an ihr vorüber, die sie grüßten, und sie hörte hinter sich sagen: „Das
ist ein schönes Mädchen! Wo mag sie wohl her sein?" Mit eiligeren
Schritten näherte sie sich dem elterlichen Hause; aber die Bäume, die
gestern voller Früchte hingen, standen heute dürr und ohne Laub; das
Haus war anders angestrichen und eine Scheune daneben erbaut. Marie
war in Verwunderung und dachte, sie sei im Traume. In dieser Ver¬
wirrung öffnete sie die Thür des Hauses und hinter dem Tische saß ihr
Vater zwischen einer unbekannten Frau und einem fremden Jünglinge.
„Mein Gott, Vater," rief sie aus, „wo ist denn die Mutter?" „Die
Mutter," sprach die Frau ahnend und stürzte hervor. „Ei, du bist
doch wohl nicht — ja freilich, freilich, bist du die verlorne, die todt¬
geglaubte, die liebe, einzige Marie." Sie hatte sie gleich an einem kleinen,
braunen Male unter dem Kinn, an den Augen und der Gestalt erkannt.
Alle umarmten sie, Alle waren freudig bewegt, und die Eltern vergossen
Thränen. Marie verwunderte sich, daß sie fast zum Vater hinaufreichte;
sie begriff nicht, wie die Mntter so verändert und gealtert sein konnte;
sie fragte nach deni Namen des jungen Menschen. „Das ist ja unsers
Nachbars Andres," sagte Martin, „wie kommst du nur nach sieben langen
Jahren so unvermuthet wieder? Wo bist du gewesen? Warum hast
du denn gar Nichts von dir hören lassen?" „Sieben Jahre?" sagte
Marie und konnte sich in ihren Vorstellungen und Erinnerungen nicht
wieder zurechtfinden; „sieben ganze Jahre?" „Ja, ja," sagte Andres
lachend und schüttelte ihr treuherzig die Hand; „ich habe gewonnen,
Mariechen, ich bin schon vor sieben Jahren an dem Birnbäume und
wieder zurück gewesen, und du, Langsame, kommst nun heut erst an!"
Man fragte sie von neuem, man drang in sie: doch sie, des Verbote-
Oltrogge, Leseb. II. I2te Aufl. 7