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erwerben können; und drittens, daß sie so allein nicht einmal einen ent¬
schiedenen Werth für die Gesellschaft haben.
I. Wenn ich behaupte, daß alle Vorzüge des Geistes für sich allein
einem Menschen unsere Achtung nicht verdienen, so berufe ich mich da¬
bei auf euer eigenes Gefühl. Und wenn ihr auch die leidenschaftlichsten 5
Bewunderer dieser Vorzüge wäret, versteht nur eure Empfindungen
recht, so werdet ihr mir gewiß Beifall geben. Dieses Gefühl der
Achtung, der Hochschätzung ist etwas ganz eigenthümliches; es ist
lediglich an unser Urtheil über den sittlichen Werth eines Menschen an¬
geknüpft, und sobald die Rede davon ist, muß alles, was hiezu nicht 10
gerechnet werden kann, bei Seite gesetzt werden. Schmückt einen
Menschen mit allem aus, was ihm von außen her gegeben werden
kann, er wird damit vielleicht alle andere Empfindungen in Anspruch
nehmen, nur diese nicht. Er habe die lieblichste Gestalt, sie wird euer
Wohlgefallen erregen; er sei mit den schärfsten Sinnen begabt, und 15
genieße dev unerschütterlichsten Gesundheit, ihr werdet ihn mit Freuden
als ein Beispiel von der natürlichen Vollkommenheit des Menschen auf¬
hellen; er besitze ein großes Uebermaß an den Gütern dieser Welt, ihr
Werdet ihn vielleicht glücklich preisen; er sei mit einer gebietenden Macht
m. der Gesellschaft ausgerüstet und von großem Einfluß auf ihr Ge-20
bethen, so werdet ihr aufmerksam sein auf alles, was er unternimmt
und was mit ihm vorgeht: aber wenn man euch zumutet, ihn hoch¬
zuachten, werdet ihr euch ohne Zweifel nach ganz andern Dingen um¬
gehen. Ja, selbst dasjenige was zu seinem Innern gehört, aber was
chr schon an ihm findet, ehe er ein Gegenstand eurer Beurtheilung sein 25
kann, betrachtet ihr nur als einen solchen Besitz. Weiset man euch
aus seine natürlichen Anlagen, auf eine Stimmung seines Gemüts,
auf eine Richtung seiner Neigungen, die er schon in den frühesten
Zähren seines Lebens bekommen hat: ihr werdet sie mit in Anschlag
bringen, wenn von der Achtung die Rede ist, welche er verdient; aber 30
uur um zu sehen, wie er sich ihrer bedient und sie gehandhabt hat.
Handlungen also wollt ihr, um ihn achten zu können, und zwar Hand¬
langen, die in dem Willen des Menschen ihren Ursprung haben und
bon diesem Zeugniß geben; denn was er etwa auf andere Art bewirkt,
etzt ihr gänzlich bei Seite, Hr kann gelegentlich und ohne Absicht die 35
wohlthätigsten Entdeckungen gemacht, er kann durch ein Bestreben, das
auf etwas ganz anderes gerichtet war, die Bosheit zurückgehalten, die
Unschuld gerettet und großes Unglück verhütet haben, das kann ihn
auf mancherlei Art in euer Gedächtniß zurückrufen, es kann seinen
Ramen merkwürdig machen in der Geschichte wichtiger Begebenheiten: 40
aber eure Achtung für ihn wird dadurch nicht den geringsten Zuwachs
Aalten. — Laßt uns nun sehen, wie es denn mit den Vorzügen des
Geistes beschaffen ist, in Absicht auf dieses nothwendige Erforderniß.
Freilich sind sie ein Besitz, der ganz ohne eigene Thätigkeit niemanden
öu Theil werden kann. Die herrlichsten Naturanlagen, wenn gar nicht 45
auf ihnen weiter fortgearbeitet wird, werden vielleicht durch einzelne
Gedanken und Aeußerungen ihr Dasein verrathen, aber zusammen¬
hangende Einsichten und sichere Fertigkeiten können ohne Fleiß niemals
srlangt werden. Nehmt den genauesten Unterricht und die herrlichsten
Gelegenheiten, werden sie nicht von eigener Lust unterstützt, ist kein 50
wahrer Trieb vorhanden, sie zu benutzen: so mögen sie höchstens nur
aas Gedächtniß bereichern mit einem Vorrath, der bei jedem andern
Osfler aufbewahrt wäre. Aber aller Fleiß würde doch auch nichts helfen
ohne Unterricht, und alle Lust nichts ohne Gelegenheit und Muße.
Mager, Deutsches Elemcntarwerk. I. 3. Sechste Aufl. gg