Full text: [Band 3, [Schülerband]] (Band 3, [Schülerband])

732 
Feuerwelt ausgeflogenen Funken zu schmelzen anfiengen und die Tropfen 
sich belebten. Der so entstandene Urriese erzeugte aus sich selbst seine 
jötunische Nachkommenschaft: unter dem Arme wuchsen ihm Sohn und 
Tochter, ein Fuß zeugte mit dem andern einen Riesensohn. Aus des 
5 erschlagenen Amirs Fleische ward dann die Erde geschaffen, aus seinem 
Gebeine Felsen, aus seinen Haaren Bäume, aus seinem Blute das 
Meer, aus der Hirnschale der Himmel, aus dem Gehirne die mißmu¬ 
tigen Wolken, aus seinen Brauen Midgard, das Geheg der Mitteln, 
bewohnbaren Erde. 
10 Aber auch in der erschaffenen und geordneten Welt behalten Amirs 
Abkömmlinge, Riesen und Riesenweiber, die Liebe zum alten Chaos, 
den Hang zur Zerstörung, die Feindschaft gegen alles, was den Himmel 
mild und die Erde wohnlich macht. Sie sind die Dämone des kalten 
und nächtlichen Winters, des ewigen Eises, des unwirtbaren Fels- 
iS gebirgs, des Sturmwinds, der sengenden Hitze, des verheerenden Ge¬ 
witters, des wilden Meeres; und darnach sind sie auch besonders be¬ 
nannt, Reif-oder Eisthurse, Berg- oder Felsriesen rc. Zürückgedrängt 
oder gebunden, rütteln sie unablässig an ihren Schranken und Fesseln, 
auch wird es ihnen noch einst gelingen, alle Bande zu zerreißen, und 
20 selbst die in Imir verbundenen Elemente werden im Weltuntergänge 
zugleich losbrechen. 
Schöpfer, Ordner und Erhalter der Welt sind die Götter, Äsen. 
Ihr Stammvater Buri gieng, nach der jüngeren Edda,* aus salzigen 
Reifsteinen, aus der Blume und Würze des Urstoffes, hervor; in ihnen 
25 ist die treibende und bildende Kraft, der lebendige und belebende Geist. 
Buris Sohn ist Bör, der mit der Riesentochter Bestla drei Söhne 
zeugt. Odin, der erste von diesen, ist fortan der Äsen oberster. Er und 
seine Brüder schaffen in vorbesagter Weise Himmel und Erde aus dem 
Körper des von ihnen erschlagenen Urriesen. Dann ordnen die Äsen 
30 den Gang der Gestirne, den Wechsel der Tageszeiten und den Jahres¬ 
lauf. Sie erschaffen aus Brimirs, des Brandenden (wieder des Ur¬ 
riesen), Fleisch und schwärzlichen Knochen, d. h. nach obigem aus Erde 
und Gestein, die Zwerge, die, besonders im Schoß der Erde, still und 
unsichtbar wirkenden Naturgeister. Zuletzt wird aus Ask und Embla, 
35 Esche und Ulme, das Menschengeschlecht gebildet und beseelt. Die 
Äsen walten über ihrer Schöpfung, indem sie täglich nach der Esche 
Mgdrasil zum Gerichte fahren. Dort sitzen sie, in der Zwölfzahl ge¬ 
dacht, wie auch im nordischen Rechte der Gerichtsmänner meist zwölfe 
sind, auf Rathstühlen. Darum heißen sie auch Regin, rathende, wal- 
40tende Mächte. Die Esche selbst, hochragend und mit weitverbreiteten 
Wurzeln, immergrün und doch vielzernagt, ist ein Bild des wachsenden 
und vergänglichen Naturlebens. Unter derselben Esche wohnen an Urds 
Brunnen die drei schicksalskundigen.Nornen, Urd, Verdandi und Skuld, 
die schon durch ihre Namen, welche auf Vergangenheit, Gegenwart 
45 und Zukunft weisen, als Zeitgöttinnen bezeichnet sind. Sie bedeuten 
das Gesetz der Zeit, des Werdens und Vergehens, dem die erschaffene 
Welt und in ihr die waltenden Äsen selbst unterworfen sind. Die 
* Tie beiden Hauptquellen der nordischen Mythologie sind die unter dem 
Namen ältere oder Sämunds Edda bekannte Sammlung altnordischer Götter¬ 
und Heldenlieder, mutmaßlich in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts 
veranstaltet, und die jüngere oder Snorris Edda, ein mythologisch-poetisches 
Handbuch, dessen Grundlage dem Isländer Snorri in der vorder« Hälfte des 
dreizehnten Jahrhunderts zugeschrieben wird.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.