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31. Deutschlands geographische und politische Lage.
sich durch Rußland die einzigen Fäden unmittelbaren Zusammenhangs
von Europa zu seinem großen Nachbarkontinent. Die selbständige Ent¬
wicklung Rußlands hat von Mitteleuropa asiatische Einflüsse abgehalten,
und in dieser Beziehung stimmt die geschichtliche Stellung Rußlands
mit der Österreichs und Ungarns überein. Aber zugleich ist damit auch
das Wachstum Deutschlands nach der einzigen Seite gehemmt worden,
wo Europa an Weite und Breite, kurz an Wachstumsmöglichkeiten ge¬
winnt. Rußlands neueste, auf den Ausbau seiner innern und besonders
der europäisch-asiatischen Verbindungen gerichtete Phase birgt für
Deutschland die Hoffnung auf eine Ausschließung seiner bisher fast
verschlossen gelegenen Ostseite nach Asien hin, zugleich aber die Gefahr
eines neuen, nachhaltigeren Druckes lang aufgesammelter europäisch¬
asiatischer Massen auf dieselbe Ostseite. Österreich-Ungarns Lage
zu Deutschland ist in manchen Beziehungen der Rußlands ähnlich. Öster¬
reich-Ungarn trennt Deutschland vom Orient; während es früher Vor¬
mauer war, ist es in der Entwicklung zum Durchgangsland schon viel
weiter fortgeschritten als Rußland. Aber so wie die Donau Deutschland
und Österreich verbindet, sind sie auch in anderer Beziehung aufeinander
hingewiesen. Beide liegen in Mitteleuropa, wo ihre heutige Lage die
Folge eines bis in die Neuzeit fortgesetzten Ostwachstums deutscher
Völker in slawische Gebiete ist. Sie sind im alten und im neuen römischen
Reiche beisammen gewesen. Darum ist auch in dem Allianzvertrag von
1879 das feste Zusammenhalten beider Reiche „ähnlich wie in dem
früheren Bundesverhältnis" ausgesprochen worden. Während aber Ru߬
land über Deutschland nach Norden hinausragt, bedeutet Österreichs
Überragen in südlicher Richtung die Verbindung mit dem Mittelmeer.
Zn dieser Beziehung gleicht die Nachbarschaft der Schweiz der Öster¬
reichs. Beide Länder haben bei ihrer Loslösung aus dem Deutschen Reiche
die alte Verbindung Deutschlands mit dem Mittelmeer abgeschnitten, die
einst eine Lebensverbindung war. Daher sind sie auch heute die wichtigsten
Durchgangsländer für den deutsch-mittelmeerischen Verkehr. Außerdem
aber umschließt die Schweiz noch Teile des alten Burgund, der natür¬
lichsten Verbindung Mitteleuropas durch Rhone und Saone mit dem
westlichen Mittelmeer, zugleich der einzigen außeralpinen. Der größere
Teil Burgunds ist an Frankreich gefallen. Deutschland und Frank¬
reich liegen nebeneinander wie zwei Blätter eines Fächers, dessen Stiel
einst beider Alpenanteile und Burgund gebildet haben. Süddeutschland
und Nordfrankreich entsprechen einander in der Zonenlage, daher auch