36 Das Meer und die Meere.
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aus, von denen die Geschichte vor der Zeit der transatlantischen Ent¬
deckungen berichtet. Die Namen Hanno und Pytheas, der großen Ent¬
decker Westafrikas und des europäischen Nordwestens, überstrahlen alles auf
diesem Gebiet, bis Vasco de Gama und Kolumbus aufleuchten. Noch in jün¬
geren Jahrhunderten hat aber kein Volk die Seeschiffahrt so gefördert
wie die Italiener. Sie haben den Kompaß vervollkommnet, die See¬
karten zeichnen gelehrt, die bedeutendsten Denker und Vollbringer der
Entdeckung Amerikas in Toscanelli und Kolumbus gestellt.
Erst der Wettbewerb der in der atlantischen Schule großgewordenen
West- und Nordeuropäer hat sie zurücktreten lassen. Die nautischen
Leistungen der mittelmeerischen Schiffer, seien es Phönizier, Griechen
oder Römer, halten von Anfang an nicht den Vergleich aus mit dem,
was die Kelten und Wikinger des Atlantischen Ozeans vollbrachten.
Auch in der Epoche der entwickelten antiken Zivilisation trieb die Kriegs¬
fahrzeuge jener das Ruder, während an der Westküste Galliens die
Veneter unter Ledersegeln auf Handel wie in den Krieg fuhren. Die
härtere Schule der nordischen Meere, des offenen Ozeans verrät sich
in den kräftigeren Zügen, welche die Normannen unternahmen. Der
Teil des Atlantischen Ozeans, den sie 500 Jahre vor Kolumbus durch¬
schnitten, um entlegene Küsten der westlichen Welt zu entdecken, ist viel
schwerer zu befahren als jener südlichere, wo der Weg des Kolumbus
liegt. Die Normannen fuhren entgegen der Richtung der heftigsten
und veränderlichsten Sturmwirbel, die Spanier trieben vor dem gleich¬
mäßigen Passat. Man bezeichnet den Seeweg nach Indien als die
erste Ursache zum Sinken der Macht Venedigs; aber tiefer wirkte die
geringe Vertrautheit mit der ozeanischen Schiffahrt auf den Rückgang
Venedigs ein, das gerade darum auch im Schiffsbau zu weit hinter
den atlantischen Völkern zurückgeblieben war. Jenen fehlte nur die
Menschenzahl, die notwendig war, um ihrer Erpansionslust und -fähigkeit
dauernde Ergebnisse zu schaffen, die ja auch heute in der verhältnismäßig
gewaltigen Größe der norwegischen Handelsflotte (1898:1,55 Mill. T.)
sich ausspricht.
Der Atlantische Ozean ist das erste von den großen Meeren,
mit dem die Völker vertraut wurden, die den Faden der Geschichte
bis zur Gegenwart herabspinnen. Es ist in vielen Beziehungen das zu¬
gänglichste. Der Atlantische Ozean bietet 32 mal mehr Raum als das Mittel¬
meer und 221 mal mehr als die Ostsee dar. Er ist schmal und langgestreckt,
klein im Verhältnis zu den Erdteilen an seinem Ost- und Westränder er