38. Albrecht Dürers Passionen.
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faßt die Kupferstichpassion das Eccehomobild zusammen. Das Licht
fällt nur auf zwei Gestalten, die einander gegenüberstehen: auf den trotz
seiner Erniedrigung ruhig ergebenen Christus und den kalt prüfenden,
unheimlich lauernden Pharisäer, einen von den Italienern viel be¬
wunderten Charakter, während die anderen Figuren sich im Halbdunkel
verlieren. Stürmischer, unter lebendiger Teilnahme des Volkes geht
der Vorgang in der kleinen Passion vor sich; noch reicher statten die
große und die grüne Passion die Szene aus. Unterhalb der Stufen des
Richthauses, in dessen Eingang Christus ausgestellt wird, drängt sich
lärmend ein Volkshaufe, alt und jung, Dicke und Magere, Fanatiker
und Neugierige, und sprechen laut ihre Meinungen und Forderungen aus.
Ähnliche tiefgreifende Unterschiede lehrt uns der Vergleich gleichnamiger
Darstellungen in den einzelnen Folgen kennen. Bei der Kreuztragung
liegt der Nachdruck bald auf der Begegnung der Frauen, denen Christus
mit unendlich sanftem Blick Trost zuruft, bald auf den Mißhandlungen,
unter denen Christus zusammenbricht. Die Kreuzigung betont entweder
das Seelenleiden Christi und den Schmerz der unter dem Kreuze ver¬
sammelten Freunde, oder sie führt uns mit symbolischem Beiwerke ge¬
schmückt die Hinrichtungsszene vor Augen.
2. Mit Recht haben die Italiener die schier unerschöpfliche Frucht¬
barkeit der Dürerschen Phantasie gepriesen und ihm als Erfinder die
Palme gereicht. Uns aber steht noch höher als die Fruchtbarkeit das
unverbrüchliche Festhalten an einem einheitlichen Grundton in den ver¬
schiedenen Folgen. Dem Bildner ging der Dichter zur Seite. Ehe er
an die einzelnen Darstellungen schritt, erwog er im Geiste, welchen Ein¬
druck und welche Empfindung das ganze Werk im Betrachter hervor¬
rufen solle. Es kann dessen Sinn in ruhigem Gleichmaß durch die Er¬
zählung der Ereignisse bewegt oder seine Phantasie durch Vorführung
leidenschaftlicher Szenen, mächtiger innerer und äußerer Kämpfe gepackt
werden; es kann weiter als Ziel die Erweckung tiefer Teilnahme an
den Schicksalen des Helden vorschweben. In der Dichtkunst wird die
natürliche Scheidung in drei Gattungen, die epische, dramatische und
lyrische Poesie, längst anerkannt und geübt. Auch im Kreise der bildenden
Kunst stoßen wir bald auf wirksame Dramatiker, bald auf ergreifende
Lyriker und fesselnde Erzähler. Was an Dürer neu ist, unsere Be¬
wunderung erregt und ihn in die Reihe der großen, die Welt umfassenden
Dichter seht, das ist die kühne Tat, einen und denselben Gegenstand
sowohl episch wie dramatisch und lyrisch erfolgreich zu behandeln.