38. Albrecht Dürers Passionen. — 39. Raffaels Madonna Sirtina. 175
seine religiöse Stimmung ihn immer und immer wieder zum Leiden
Christi, als dem Kern der ganzen Heilslehre, zog. Wir beobachten
gerade in den Jahren, in denen Dürer die Passionsgeschichte von neuem
vornahm, früher begonnene Folgen vollendete, neue Folgen schuf, sein
gesteigertes Interesse an religiösen Dingen, das ihn sogar die poetischen
Schwingen rühren läßt. Er begleitet 1510 den Holzschnitt mit Christus
am Kreuze zwischen Maria und Johannes auf der Rückseite mit Versen,
die sich auf die „sieben Tageszeiten", in denen „Christus trug fein
Leiden", beziehen. In ihnen gibt sich nicht allein Dürers frommer
Sinn, sondern auch seine persönliche Empfindung kund, daß „Christi
Tod uns ewiges Leben erwarb", daß sein Tod „das Heilmittel für
die größte Not" sei und „wir durch Christus das ewige Leben haben".
Nicht die Empfindung an sich, wohl aber ihr kräftiger Ausdruck erscheint
für Dürers Natur bedeutsam. Anton Springer.
39. Raffaels Madonna Sirtina.
1. Die rund fünfzig Madonnenbilder, die wir von Raffael haben,
sind eine kleine Welt für sich, die ausgestattet ist mit den immensen
Reichtümern seines Geistes, belebt von den Inspirationen seiner Seele,
verschönt durch die holdselige Anmut seiner Kunst. Auch in dieser kleinen
Welt seines Schaffens sind die Wandlungen wohl zu beobachten, die seine
Kunst durchmacht und von denen jede einen neuen Aufschwung zu noch
erhabenerer Höhe bedeutet, wenigstens was technische Vollendung an¬
langt. Auch in dieser Welt im kleinen ist wahrzunehmen, wie Raffaels
Charakter und Bedeutung dem Schwerpunkt nach in die geniale Viel¬
seitigkeit und künstlerische Universalität zu verlegen ist.
Wir finden auch hier den Raffael wieder, der zunächst nur als eine
verbesserte Auflage von Perugino, als eine Vervollkommnung des Fra
Bartolommeo, als eine Vollendung des Lionardo erscheint und der doch
immer ganz Raffael ist und bleibt. Aber er kombiniert auch die ver¬
schiedenen bisher üblichen Typen und Arten, die Madonna mit dem
Kinde darzustellen. War bisher von den einzelnen Meistern und Schulen
ein mehr oder weniger konstanter Typus festgehalten worden, so variiert
Raffael des Thema auf die mannigfachste Weise, aber immer in seiner
spezifischen Tonart. Er stellt dar das heilige Kind als Gottessohn und
als liebliches Menschenkind, als Kind in unbefangenem Spiel oder als
Kind, auf dessen Antlitz das Bewußtsein der göttlichen Natur und seiner