3
I
Waschungen, wie bei den Christen die Taufe; da gab es gemein¬
same Mahlzeiten, wie bei den Christen die Liebesmahle und das
Abendmahl. Ja, da gab es auch eine allgemeine Verbrüderung
der Vereinsgenossen. In den Kollegien und Bruderschaften war
— ganz wie bei den Christen — der Unterschied des Standes
aufgehoben: der Sklave galt dem Freien gleich, der Freigelassene
dem Freigeborenen. Bei den Zusammenkünften und Festlichkeiten
der Vereine war der Ort, wo auch der elendeste Sklave vor¬
übergehend der Freiheit und Gleichheit genießen, wo der gemeine
Mann, wenigstens für den Augenblick, die Last des Lebens von
sich schütteln konnte. Ja, es gab in diesen Vereinen Unter¬
stützungen bedürftiger Mitglieder von Vereins wegen, insbesondere
Unterstützungen, die zur Beschaffung eines ehrlichen Begräbnisses
für Vereinsmitglieder ausgezahlt wurden. Selbst die Idee werk¬
tätiger Bruderliebe schien den christlichen Gemeinden nicht eigen¬
tümlich.
Aber doch welch ein Unterschied! Wo sind die anderen zahl¬
losen Vereine, die das Bedürfnis der Massen im Römerreich
einst geschaffen hatte? Wo sind sie heute? Der Wind der Ge¬
schichte hat sie verweht. Schon lange, schon seit vielen Jahr¬
hunderten ist keine Spur von ihnen übrig geblieben. Von all
jenen religiösen Verbänden des römischen Reiches sind nur zwei
noch heute am Leben, die jüdische Synagoge und die christliche
Gemeinde: die jüdische Synagoge zunächst infolge der Lebens¬
kraft jüdischer Nationalität, die christliche Gemeinde aber, hinter
der keine geschlossene Nationalität stand, lediglich infolge der
Lebenskraft ihrer Religion.
Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. Keine andere Religion
ist imstande gewesen, die Führerin unserer Kulturentwicklung zu
sein, als allein die christliche. Aus diesem Grunde hat sie den
Sieg davongetragen. Mit ihr waren nicht die Legionen, war
auch nicht die Bildung des Altertums, aber die Kraft göttlicher
Wahrheit, die mächtiger ist als alle Großmächte unseres irdischen
Lebens.
Kraft des Geistes, der in ihr lebendig ist, konnte die christ¬
liche Gemeinde, emporwachsend, das große Römerreich überdauern,
das Altertum mit der Neuzeit verknüpfen und die Erzieherin
der kommenden Menschheit sein. Rudolph Sohm.
1*No full text available for this image
No full text available for this image