87. Die ungleichen Schwestern.
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abzuhalten versuchten! Christine fand Gefallen an ihrem Lebenswandel
und blieb demselben getreu. —
Waren die armen Eltern tief bekümmert um diese ihnen entfremdete
Tochter, so fanden sie ihren Trost an den übrigen, wohlgeratenen Kindern,
besonders an ihrer ältesten Tochter Brigitte. Einfach und schlicht in
ihrem ganzen Wesen, häuslich gesinnt und anhänglich an Familie und
Heimat, fand sie wenig Geschmack an den verlockenden Berichten, wie sie
anfangs aus der Stadt einliefen, sondern fühlte sich glücklich und zufrieden
auf dem bescheidenen Gute ihrer Eltern, bei der gewöhnlichen Arbeit der
Bauern. Sie verrichtete in Küche und Stall, im Garten und auf dem
Felde alle ihr obliegenden Geschäfte, und ihr Vergnügen bestand darin,
in der freien Zeit, die allerdings spärlich genug bemessen war, ein erbau—
liches Buch zu lesen, die Schulaufgaben ihrer jüngeren Geschwister zu
überwachen und zu prüfen oder in den Kindern auf Spaziergängen durch
Wald und Feld das Gefühl für Gottes Güte und Allmacht zu wecken.
Darum kostete es die Eltern auch ein großes Opfer, ihre Einwilligung
zu geben, als ein biederer Geschäftsmann des Dorfes bei ihnen um die
Hand der tugendsamen Brigitte anhielt. Doch wollten sie dem Glücke
ihrer Tochter nicht im Wege stehen. Und wie dieselbe es in ihrem
väterlichen Hause gepflegt, so schaltete sie auch in ihrem neuen Heim an
der Seite ihres Mannes und im Kreise ihrer Kinder mit Liebe, Fleiß,
Umsicht und Sparsamkeit, so daß der Hausstand trotz der mannigfachen
Auslagen, welche er forderte, doch erfreulich blühte und mit den Jahren
ein ansehnliches Sümmchen als Zehrpfennig für spätere Zeiten zurück—
gelegt werden konnte — — —
Zehn Jahre waren vergangen. An einem trüben, nebeligen Herbst—
tage entstieg der Post, die seit kurzem durch das Dörflein fuhr, mühsam
eine abgezehrte Kranke. Nur mit Aufwand aller Kräfte vermochte sie
ihr geringes Handgepäck zu tragen. „Wohin geht sie wohl? Wer ist
sie?“ Das mögen die neugierigen Fragen der Kinder gewesen sein, die
wie täglich so auch heute bei Eintreffen der noch ungewohnten Post
bereitstanden, die etwa Ankommenden zu betrachten. Nicht lange hatten
sie der Fremden zu folgen. Sie lenkte ihre Schritte dem Hause zu,
welchem einst Christine, beseelt von stürmischem Wandertriebe, Lebewohl
gesagt; denn sie selbst war es. Hätte nicht Mutterliebe noch gewacht,
schwerlich hätte man sie im Hause alsbald erkannt. Wo waren die
jugendfrischen Wangen, wo war der helle Schimmer der Augen, die
leichte Beweglichkeit der Gestalt, die strotzende Gesundheit, der frische
Mut, wo die Unschuld und der Friede des Herzens von einst? —
Alles dahin, verloren bei dem ungestümen Streben und Haschen nach