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die Nachtviole duftet lieblicher. Verlorene Seufzer der müden Philomele regen
sich noch im nahen Gebüsch und erwecken eine zärtliche Wehmut. Wie bald
legt sich der Sturm der Leidenschaften in der Seele, da die ganze Natur
schweigt, da selbst der Atem der Luft still ist! Wie ruhig schließt sich das
ganze Herz in sich selbst ein und fängt an, sich in geheime Unterredungen mit
sich einzulassen, bis der Schlummer sich aufs Auge senkt und holde Träume
die immer wache Phantasie entzücken!
135. Ein Gemälde des Herbstes.
Christian /erd. /alkinann.
Die Zeit des Jahres kehrt nunmehr wieder, welche wir Herbst nennen.
Das glänzende Gestirn, von dem wir Licht und Wärme empfangen, scheint
sich uns fe mehr und mehr zu entziehen; es verweilt jeden Tag kürzere Zeit
am Himmel, erhebt sich jedesmal weniger hoch über unsern Gesichtskreis.
Darum gewinnt das Dunkel immer größern Raum auf der Erde; die Tage
werden kürzer, die Nächte länger. Der Morgen kämpft mit dichten, feuchten
Nebeln, die, kaum von der Mittagssonne vertrieben, die Dämmerung des
Abends schon wieder herbeiführen. Oft deckt ihr Schleier den ganzen Tag,
oft verdichten sie sich zu endlos herabströmendem Regen. Und aus dem zu¬
nehmenden Dunkel geht Kühle hervor. Morgen- und Abendluft ist rauh, und
allmählich erstarren die Dünste der Nacht zu blinkendem Reif. Angenehm sind
indes die Tage, wo die Sonne herrscht im wolkenlosen, dunkelblauen Himmel,
wo ihre Strahlen die feuchte Kühle umwandeln zur mildern, leicht geatmeten
Luft und die alternde Erde noch einmal wie mit Jugendglanz übergießen. Denn
die Erde scheint zu dieser Zeit abzunehmen an Lebenskraft. Sie wird nach und
nach kahl, einfarbig, öde und still. Vorzüglich sind daran die Veränderungen
schuld, die mit ihren Kindern, den Pflanzen, vorgehen. Unter ihnen herrscht
ein allgemeines Welken und Absterben. Sie haben dem Menschen die Früchte
gegeben, die sie geboren hatten. Er mäht und erntet noch jetzt des Hafers
übriggebliebene Halme, der Wiesen letztes Gras; er bricht und sammelt des
Apfel- und des Birnbaumes späte Früchte. Aber bald sind nun auch auf den
Feldern nur noch Stoppeln zu sehen; auf den Weiden und Wiesen tritt ein
falbes Gelb an die Stelle des saftigen Grüns; in den Gärten starren überall
dürre, ausgeleerte Schoten und Kapseln auf ebenso dürren Stengeln empor.
Vor allem erscheint das Ansehen des Waldes verändert. Sein Grün hat sich
mit allen Schattierungen von gelb und rot und braun vermischt. Am Boden
liegt bereits, des Wanderers Fuß umrauschend, der Kastanie, der Pappel und
der Linde Blätterschmuck. Hier und da erblickt das Auge freilich noch Reste
früherer Schönheit. In den Gärten blüht noch manche Herbstblume, unter
ihnen die Malve oder Stockrose, die Aster und die Reseda; auf den Wiesen
überrascht uns das Rosenfarb der Zeitlose; ja das frische Grün der jungen
Roggensaat erinnert an das Keimen des Frühlings. — Aber auch die freieren,
weniger an die Stellen der Geburt gefesselten Erdenkinder, die Tiere, scheinen
es zu empsinden, daß eine weniger gute Zeit komme. Nicht mehr so heimisch
scheint bereits das Vieh auf der Weide; es muß durch Hüter abgehalten werden,
daß es nicht, Hecken und Verzäunungen durchbrechend, dem behaglichen Stalle