Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, nebst einem Abriß der Poetik und Litteraturgeschichte

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62. Die geprüfte Treue. 
Aus den „Palmblättern" von 3. G. von Herder und A. I. Liebeskind. 
Der Kalif Mutewekul hatte einen fremden Arzt, namens Honain, welchen 
er wegen seiner großen Wissenschaft sehr ehrte. Einige Hosleute machten ihm 
diesen Mann verdächtig und sagten, da derselbe ein Ausländer sei, so könne 
man sich auf seine Treue nicht ganz wohl verlassen. Der Kalis ward unruhig 
und wollte ihn prüfen. Er ließ ihn zu sich kommen und sagte: „Honain, ich 
habe unter meinen Emirn einen gefährlichen Feind, gegen den ich seines starken 
Anhangs wegen keine Gewalt brauchen kann. Daher befehle ich dir, daß du ein 
seines Gift zubereitest, das an dem Toten keine Spur von sich zurückläßt. Ich will 
ihn morgen zu Gast laden und mich seiner auf diese Weise entledigen." — 
„Herr," antwortete Honain mit getroster Zuversicht, „meine Wissenschaft erstreckt 
sich bloß aus Arzneien, die das Leben erhalten; andere kann ich nicht zubereiten. 
Ich hahe mich auch nie bemüht, es zu lernen, weil ich glaubte, daß der wahre 
Beherrscher der Gläubigen keine solche Kenntnisse von mir fordern würde. Habe 
ich hierin unrecht gethan, so erlaube mir, deinen Hof zn verlassen, um diese 
mangelnde Wissenschaft in einem andern Lande zu erlernen." 
Mutewekul antwortete, dies sei eine leere Entschuldigung; wer die heilsamen 
Mittel kenne, der wisse auch die schädlichen. Er bat, er drohte, er versprach 
Geschenke. Umsonst; Honain blieb bei seiner Antwort. Endlich stellte sich der 
Kalif erzürnt, rief die Wache und befahl, diesen widerspenstigen Mann ins Ge¬ 
fängnis zu führen. Das geschah; auch ward ein Kundschafter unter dem 
Scheine eines Gefangenen zu ihm gesetzt, der ihn ausforschen und dem Kalifen von 
allem, was Honain sagen würde, Nachricht geben sollte. So unwillig Honain über 
eine solche Begegnung war, so ließ er sich doch mit keinem Worte gegen den 
Mitgefangenen merken, warum der Kalif auf ihn zürne. Alles, was er hier¬ 
über sagte, bestand darin, daß ihm unrecht geschehe. 
Nach einiger Zeit ließ ihn der Kalif wieder vor sich bringen. Aus einem 
Tisch lag ein Haufen Gold, Diamanten und köstlicher Stoffe; daneben aber 
stand der Henker mit einer Geißel in der Hand und einem Schwerte unter dem 
Arme. „Du hast Zeit gehabt," sing Mutewekul an, „dich zn bedenken und 
das Unrecht deiner Widerspenstigkeit einzusehen. Nun wähle: entweder nimm 
diese Reichtümer und thue meinen Willen, oder bereite dich zn einem schimpf¬ 
lichen Tode." 
„Herr," antwortete Honain, „die Schande besteht nicht in der Strafe, son¬ 
dern in dem Verbrechen. Ich kann sterben, um nicht die Ehre meiner Wissen¬ 
schaft und meines Standes zu beflecken. Du bist Herr meines Lebens; thue, 
was dir gefallt!" 
„Geht hinaus!" sagte der Kalif zu den Umstehenden, und als er allein 
war, reichte er dem gewissenhaften Honain die Hand und sprach: „Honain, ich 
bin mit dir zufrieden; du bist mein Freund und ich bin der deinige. Man 
hatte mir deine Treue verdächtig gemacht; ich mußte deine Ehrlichkeit prüfen. 
Nicht zur Belohnung, sondern als Zeichen meiner Freundschaft werde ich dir 
diese Geschenke senden, die deine Tugend nicht verführen konnten." So sprach 
der Kalif und befahl, das Gold, die Edelsteine und die Stoffe in Honains 
Zimmer zu tragen.
	        
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