Full text: [2 = Mittlere Lehrstufe, [Schülerband]] (2 = Mittlere Lehrstufe, [Schülerband])

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VI. Naturbeschreibung. 
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VI. 
Naturbeschreibung. 
35. Die Linde. 
Von den Bäumen, die dem heimischen Boden Schatten geben, ist die Linde einer 
der schönsten. In dem Umfang ihres aufstrebenden Stammes und in der Höhe 
kaum hinter der Eiche zurückbleibend, übertrifft sie dieselbe in dem Reichtum ihrer 
Verästung und Verzweigung und durch die Fülle ihrer blätterdichten weiten 
Krone. 
In der Ehre, welche ein hohes Alter gewährt, wird sie von keinem andern 
deutschen Baume übertroffen. Man gibt ihr eine Lebensdauer von achthundert bis 
tausend Jahren. Der großen Linde bei N e u st a d t im Königreich Württemberg 
geschieht urkundlich schon in den Jahren 1229 und 1408 Erwähnung. Vieler 
Männer Arme umspannen sie nicht, und mehr denn hundert steinerne Säulen sind 
hingestellt, um die Äste, die sie rings weit ausstreckt, zu stützen. 
Die Linde ist durch ganz Deutschland und die Schweiz, soweit man dort die 
deutsche Zunge hört, reichlich verbreitet, im Süden und Westen vorherrschend die 
breitblättrige, im Osten und Norden mehr die kleinblättrige, beide Arten gleich an 
Größe und Umfang, mit saftgrünen herzförmigen Blättern, jene heller, diese dunkler, 
jene mit früheren, diese mit späteren Blüten. 
Als Waldbestand, der größere Flüchen bedeckte, wird sie selten angetroffen. 
Man könnte sich der Vorstellung hingeben, sie liebe und suche, gleich manchen Tieren, 
die Nähe des Menschen, und sie begleite ihn gern zu den Stätten seiner Ruhe und 
Tätigkeit und siedle sich an, wo höhere Gedanken seine Seele bewegen. Man sieht 
sie vor dem Hause des Pfarrers, des Amtmannes, des Schulzen und neben der 
Ruhebank vor der Tür des Schenkwirts, bei den Ausgängen der Dörfer, Weiler 
und Städte und vor den Toren zerfallener Burgen, neben den Grenzmalen der 
Gemeinden und Gemarkungen, auf Kreuzwegen und auf ehemaligen Gerichtsstätten. 
Über die Ruhestätte der Herde in der Weide, über den Brunnen, den die menschliche 
Hand gegraben, über die Quelle, die aus dem Felsen springt, breitet sie ihr schützen¬ 
des Dach, und in gleicher Weise birgt sie den frommen Beter vor den Strahlen der 
Sonne bei den Kapellen im Felde, bei den Stationsbildern und vor dem Bild des 
Gekreuzigten. Auf den Plätzen, welche die Gotteshäuser der ländlichen Bevölkerung 
umgeben, und wo der Mensch seine letzte Ruhestätte findet, teilt sie seine Einsamkeit. 
Die Erinnerung an herrliche Männer ist mit ihr verwachsen. Über der Grabstätte 
K l o p st o ck s bei O t t e n s e n haucht eine Linde, gepflanzt von M e t a s Schwestern, 
ihre Düfte aus. Und eine große Linde bei S t u t t g a r 1, in der schönen Promenade 
aufwärts nach der Höhe, heißt die U h l a n d s l i n d e.
	        
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