Full text: [2 = Mittlere Lehrstufe, [Schülerband]] (2 = Mittlere Lehrstufe, [Schülerband])

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I. Erzählung. 
Der Herr sah die Dame an, welche die Augen voll Wasser hatte. Sie 
sprachen kein Wort, aber ihre Blicke hatten sich verstanden. Der Herr kniete nieder 
auf das Grab und neben ihm die Dame. Sie beteten lange mit gefalteten Händen, 
und ihre Tränen fielen reichlich auf das Grab. Hierauf standen sie auf, und der 
Kaiser sprach zur Kaiserin: „Der arme Priester, dem seine Mutter lehrte, Reich¬ 
tum und Ansehen zu verschmähen, der das einträgliche Kanonikat bei St. Stephan 
verschmähte, verschmähte aus Liebe zum armen Heilande am Kreuze und zu seiner 
Gemeinde — o, ich verstand damals deinen Blick auf Mutter und Kreuz, edler 
Priester! —, ist jetzt dort, wo unser Erlöser und seine Mutter. — „„Der Hirt 
kann seine Schäflein nicht verlassen,"" sprach er damals, „„ich danke, 
unter ihnen habe ich gelebt, unter ihnen will ich auch begraben 
sein."" Sein Wunsch ist erfüllt. Der Herr hat ihm ein besseres Kanonikat 
gegeben, als ich imstande war. Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist 
das Himmelreich. Schlaf wohl, du redlicher, edler Pfarrer von Ulrichskirchen! 
Du hast die Worte des Heilandes: „„Ich bin ein guter Hirt; ein guter Hirt gibt 
sein Leben für seine Schafe"" nicht nur verstanden, sondern auch geübt. Selig ist 
der Tod des Gerechten, denn seine Werke folgen ihm nach." 
Anton Langer und Bruno Schön. 
4. Ein Besuch bei Gellert. 
„Wissen Sie," rief der alte Husar mit der größten Lebhaftigkeit aus, „wem 
ich alles zu verdanken habe, daß ich ein Mensch, und daß ich ein g u t e r M e n s ch 
bin?" „Nein," sagte der Obrist; „Sie machen mich neugierig." — „Ihm," sprach 
jener mit Enthusiasmus weiter, „unserm Gellert, unserm frommen Weisen, von 
dem die jetzige überkluge Welt nur noch selten sprechen mag. — Unser Regiment 
war dreimal in Leipzig. Der große Friedrich hatte es auch nicht verschmäht, 
den damals berühmten Gottsched zu sprechen und sich von Gellert einige 
seiner Fabeln vorlesen zu lassen. Ich hatte mich wahrlich nicht viel um Bücher 
bekümmert, aber diese Fabeln wußte ich doch auswendig. Sie prägen sich auch 
ganz von selbst dem Gedächtnisse ein, so einfach und natürlich sind sie alle. Jeder¬ 
mann muß meinen, wenn er den Gedanken gefaßt hätte, würde er ihn auch in 
keinen andern Worten ausgesprochen haben. Mit seinen geistlichen Liedern ist es 
derselbe Fall. So ließ es mir keine Ruhe, ich mußte den Mann sehen, den mein 
ganzes Herz verehrte. Es war freilich schwer, bei ihm vorgelassen zu werden: 
wie konnte ich auch, als gemeiner Husar, eine solche Auszeichnung fordern oder 
erwarten? Indessen sammelte ich an einem Vormittage meinen Mut, ich hatte seine 
Freistunden ausgekundschaftet und stand nun im Vorzimmer. Mir schlug das 
Herz gerade so, als damals, da ich das erste Mal in den Feind einhauen sollte, 
vielleicht noch mehr. Er mußte sich gewiß verwundern, was ein Soldat bei ihm
	        
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