Full text: [Teil 3 = (Für Quarta), [Schülerband]] (Teil 3 = (Für Quarta), [Schülerband])

271 
Anblick gewähren und die Lust mit betäubendem Dufte erfüllen. Denkt man 
sich dazu schroffe, oft mehrere Hundert Meter fast senkrecht aufstrebende Fels¬ 
wände, die vielfach von unten bis oben mit mächtigem, altem Efeu berankt 
sind, so kann man sich einen Begriff von den Reizen dieser Landschaft machen. 
Dagegen hat die grusinische Hochebene, in die man nach dem Überschreiten des 
Surams gelangt, und in der die Straße nach Tiflis, fast beständig dem Lause 
des Kur folgend, weiterführt, keine besonderen Schönheiten; sic ist steinig, 
vielfach zerklüftet und pflanzenarm. Doch wird man durch die immer wieder 
auftauchende Ansicht der Kette von Schneehäuptern des Kaukasus, die schon 
vom Meere aus einen so herrlichen Anblick gewährt, mit der öden Umgebung 
versöhnt. 
Das vom Kur in tief eingeschnittenem Flußbette durchströmte Tiflis 
liegt nach Norden an eine steil abfallende Bergwand angelehnt, die wohl 
hauptsächlich schuld daran ist, daß es im Sommer ganz unerträglich heiß in 
der Stadt wird. Daher besitzt auch jeder Bewohner von Tiflis, der es irgend 
ermöglichen kann, für die heiße Zeit eine zweite, tausend Meter höher gelegene 
Wohnung, die er nur verläßt, nm Geschäftsbesuche in der Stadt zu machen. 
Eigentlich besteht Tiflis aus zwei ganz verschiedenen Städten, der oberen 
europäischen und der unteren asiatischen Stadt, die beide durch scharfe Grenzen 
voneinander geschieden sind. Das europäische Tiflis nennt sich gern und mit 
Stolz „das asiatische Paris" oder beansprucht doch diesen Ehrentitel unmittelbar 
hinter Kalkutta. In der Tat sieht es ganz europäisch aus und wird auch 
überwiegend von Russen und Westeuropäern bewohnt: in diesen: Teile liegen 
die kaiserliche Residenz, das Theater und sämtliche Regierungsgebäude. Die 
angrenzende Stadt ist dagegen nach Ansehen und Bevölkerung rein asiatisch. 
Der Grund, weshalb Tiflis ein uralter Kultursitz geworden ist, wird wohl 
in den berühmten Thermen zu suchen sein, die für den Orientalen eine noch 
höhere Bedeutung haben als für den Okzidentalen. 
Wir übernachteten in der schwäbischen Kolonie Annenfeld, die am Fuße 
eines steilen Bergabhanges nahe dem Kur in sehr fruchtbarer, aber nicht 
gesunder Gegend liegt oder vielmehr lag, denn die Kolonie hat später den 
Ort verlassen und sich etwa 150 Meter höher am Abhange des Gebirges ein 
neues Dorf erbaut. Es gibt im Kaukasus eine ganze Anzahl solcher schwä¬ 
bischen Kolonien: auch Tiflis gehört dazu. Sie verdanken ihren Ursprung 
streng gläubigen Lutheranern aus Schwaben, die in den ersten Jahrzehnten 
des neunzehnten Jahrhunderts in verschiedenen Zügen ihr Vaterland verließen 
und auf dem Landwege über Österreich und Rußland nach dem Gelobten Lande 
wandern wollten, wo nach Meinung ihrer Führer irdische und himmlische 
Freuden sie erwarteten. Der russischen Regierung lag aber damals viel an 
der Einwanderung tüchtiger deutscher Ackerbauer in den Kaukasus, sie hielt 
daher die Kolonnen dort an und veranlaßte sie, unter ihrem Geleit eine 
Kommission nach Jerusalem vorauszuschicken, die erst prüfen sollte, ob dort 
auch wirklich passendes Land für sie zu haben sei. Als diese nach längerer Frist
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.