6. Des fremden Kindes heilger Christ.
das Verderben, das jeglicher meiden will.
Und schon mit der rollenden Augen Glut
erlechzt der Löwe des Kindleins Blut,
erhebt er drohend die grimmige Klau': —
O qualvoll', herzzerreißende Schau!
So rettet nichts das zarte Leben,
dem gräßlichsten Tode dahingegeben? —
Da plötzlich stürzt aus einem Haus
mit fliegenden Haaren ein Weib heraus: —
„Um Gotteswillen, o Weib, halt ein!
willst du dich selbst dem Verderben weih'n?
Unglückliche Mutter, zurück den Schritt!
Du kannst nicht retten, du stirbst nur mit!“
Doch furchtlos fällt sie den Löwen an,
und aus dem Rachen mit scharfem Zahn
nimmt sie das unversehrte Kind
in ihren rettenden Arm geschwind.
Der Löwe stutzt, und unverweilt
mit dem Kinde die Mutter von dannen eilt.
Da erkannte gerührt so jung wie alt
des Mutterherzens Allgewalt
und des Leuen großmuͤtigen Sinn zugleich.
Doch manche Mutter, von Schrecken bleich,
sprach still: „Um des eigenen Kindes Leben
hätt' ich mich auch dahingegeben.“
Bernhardi.
6. Des fremden Kindes heil'ger Christ.
1. Es läuft ein fremdes Kind
am Abend vor Weihnachten
durch eine Stadt geschwind,
die Lichter zu betrachten,
die angezündet sind.
2. Es steht vor jedem Haus
und sieht die hellen Räume;
die drinnen schau'n heraus,
die lampenvollen Bäume;
weh wird's ihm überaus.
3. Das Kindlein weint und spricht:
Ein jedes Kind hat heute
ein Bäumchen und ein Licht
und hat dran seine Freude,
nur bloß ich armes nicht.
4. An der Geschwister Hand,
als ich daheim gesessen,
hat es mir auch gebrannt;
doch hier bin ich vergessen
in diesem fremden Land.
5. Läßt mich denn niemand ein,
und gönnt mir auch ein Fleckchen?
In all' den Häuserreih'n
ist denn für mich kein Eckchen,
und wär' es noch so klein?
6. Läßt mich denn niemand ein?
Ich will ja selbst nichts haben,
ich will ja nur am Schein
der fremden Weihnachtsgaben
mich laben ganz allein!“
7. Es klopft an Thür und Thor,
an Fenster und an Laden;
doch niemand tritt hervor,
das Kindlein einzuladen;
sie haben drin kein Ohr.
8. Ein jeder Vater lenkt
den Sinn auf seine Kinder;
die Mutter sie beschenkt,
denkt sonst nichts mehr, nichts minder;
ans Kindlein niemand denkt.