Full text: Deutsches Lesebuch für die Bedürfnisse katholischer Volksschulen

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20. Wessen Licht brennt länger? 
Herren. Nur der Wildmeister war ganz allein unten im Keller, der 
fast durch das ganze Schloß hinlief. 
Der alte Schlemmer hätte schon wissen mögen, was für Weine 
in dem kleinen Seitengewölbe liegen, in welches man aus dem Haupt— 
keller durch ein niederes Pförtlein gelangen konnte. Eine bessere Ge— 
legenheit, den geheimnisvollen Inhalt der unterirdischen Zelle zu er— 
forschen, konnte es nicht geben, als an diesem Abend. Er zündete 
daher die Ampel der Küchenmagd an, nahm das Schlüsselbund des 
Kellermeisters und stieg in die Tiefe hinab. Die Lampe brannte ihm 
zu trübe. Deswegen füllte er aus einem angezapften Fasse einen 
Becher mit Franzbranntwein, nahm aus dem Korbe des Kellermeisters 
eine Hand voll Werg, zündete es an und warf es auf den Spiritus. 
Nun erleuchtete eine große blaue Flamme das weite und hohe Ge— 
wölbe. Dann öffnete er die Seitenzelle, wälzte eins von den zwanzig 
Fäßlein, die darin auf einander lagen, heraus, bohrte ein Loch in 
den Boden, steckte eine Holunderröhre hinein und legte dann die Tonne 
auf ein Lager, um ihren Inhalt mit Muße zu kosten. Es war aber 
kein Wein darin, sondern schwarzes körniges Pulver, das durch die 
Röhre herausrann, wie Streusand aus einer umgeworfenen Büchse. 
Denn in dem Gewölbe lag noch von dem dreißigjährigen Kriege her 
ein Vorrat von grobem Schießpulver, das man nicht in die Jagd— 
flinten brauchen konnte. 
Staunend glotzte der Wildmeister das rinnende Pulver an. Aber 
nicht lange. Von der offenen Kellerthür herab kam ein Zugwind und 
führte von dem brennenden Werg ein Fünklein in das auf dem Boden 
liegende Pulver, welches sich entzündete. 
In diesem Augenblicke flog das Dach auf dem Schloß von ein— 
ander und machte einer Rauchsäule Platz. Ein dumpfer, schwerer 
Knall folgte darauf. Der Engel des Herrn aber behütete die Hütte 
des Fischers und wehrte die schweren, fliegenden Trümmer des Schlosses 
von der Hütte ab, um das Leben ihrer Bewohner zu erhalten. 
Hätte er nicht seine Fittiche ausgebreitet, wie eine Henne über ihre 
Küchlein, so würde der gewaltige Luftstoß das Hüttlein ergriffen und 
in den See geworfen haben. Auf den Knall eilten auch der Fischer 
und sein Sohn bestürzt hinaus vor die Thür und sahen noch die 
turmhohe Rauchgarbe, die sich allmählich senkte und über den See 
hinlegte. Von dem Schlosse standen noch die vier Mauern, und durch 
die offenen Fenster und Thüren schien von hinten her der Mond. 
Drinnen und ringsumher glimmte kein Fünklein mehr, und alles war 
totenstill. Nur der See war noch von den hineingeworfenen Trümmern 
bewegt. Erschüttert kehrten die Leute unter ihr Strohdach zurück, 
dankten dem Herrn für ihre gnadenvolle und wunderbare Erhaltung 
und löschten ihre Lichter aus. Wessen Licht hatte also länger gebrannt? 
Einige Monate darauf, als das Wasserhuhn im Schilfrohr am 
See brütete, kamen Verwandte des Freiherrn von Haldenstein aus 
Böhmen und suchten unter den Ruinen des Weidhauses. Aber obgleich
	        
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