Im Luftschiff.
193
2.
Mit der Generalstabskarte in der Land gibt der Führer seine
Befehle. Wir haben uns die Reichshauptstadt von oben angesehen,
bis uns ein Grauen vor der Asphaltwüste mit ihren Steinklöstern packte.
In unendlicher Wiederholung immer dasselbe. Nun liegt das qualmende
Berlin hinter uns, reiner und immer reiner strahlt die Sonne. Der
Schatten unseres „P. L. 6" unten, 200 Meter unter uns auf den Feldern,
wird deutlicher und schärfer: wie ein schwarzer Riesenfisch mit dickem
Kops und langem Schwanz gleitet er in windender Eile über Stock und
Stein, rutscht über Ääuser und Dörfer, Menschen und Wagen und
Kanalschifie, über Wälder und Kirchtürme. Lei, ist das ein lustiges
Jagen! Peter Schlemihl konnte nicht gespannter nach seinem verlorenen
Schatten ausschauen, als wir nach unserem unzertrennlichen. Jetzt packt
er das große katholische Kloster in Marienfelde, das mit seinen radialen
Bauten so eigenartig aussieht, und verschluckt gierig die 50 oder 60
weißgekleideten Gestalten, die aus den Türen stürzen, um das Luftschiff
zu sehen. Vorbei, vorbei! Mit einem Satze ist der Schattenfisch dann
über den Griebnitzsee. Nun überlassen wir es ihm, in Babelsberg sich
ohne Schaden hindurchzuschlängeln; wir haben anderswo mehr zu
schauen.
Drüben rechts blinkt die weite Wasserfläche des Wannsees, vor
uns aber liegt, auch von unzähligen Seen eingefaßt, das alte Potsdam
mit seinen Kirchen und Palästen. Es wächst nicht aus den Gewässern
empor, wie sonst, wenn wir es mit dem Dampfer erreichen. Es liegt
villenlos flach hingestreckt, offen bis in das letzte Gäßchen, wie gebannt
vor Schreck, während der Drache in den Lüften daherrauscht. Da liegt
das Stadtschloß unter uns und die Nikolaikirche, imposante Bauten, —
und doch nur Spielzeug, zerbrechlicher Tand in unserer Faust. Nun
sind wir über Sanssouci, die Terrassen bauen sich wie Puppenkartons
auf, und das Becken der großen Wasserkunst liegt davor wie ein silbernes
Fünfzigpfennigstück. Der „P. L. 6" fährt jetzt nicht mehr in wagerechter
Haltung, sondern mit der Spitze abwärts geneigt: die Sonnenwärme
dehnt allmählich das Gas aus und gibt so dem Ballon einen stärkeren
Austrieb, dem wir dynamisch begegnen; wir wirken mit der eigenen
Maschinenkraft der Lockung der Sonne entgegen, indem wir abwärts
steuern. Zweimal umkreisen wir das Neue Palais, um auszuprobieren,
von wo aus es das gefälligste Bild für die Kamera bietet. Dann
machen wir am Ruinenberg vorbei einen kleinen Abstecher über das
Bornstedter Feld. Llnten übt eine Kompagnie in kleinen Abteilungen
Lesebuch für höhere Lehranstalten. Ober-Tertia. 13