A. Erzählende Prosa.
I. Fabeln und Parabeln.
1. Herkules.
Von Gotthold Ephraim Lessing.
Als Herkules in den Himmel aufgenommen wurde, machte er seinen
Gruß unter allen Göttern der Juno zuerst. Der ganze Himmel und
Juno erstaunte darüber. „Deiner Feindin", rief man ihm zu, „be¬
gegnest du so vorzüglich?" „Ja, ihr selbst," erwiderte Herkules. „Nur
ihre Verfolgungen sind es, die mir zu den Taten Gelegenheit gegeben,
womit ich den Himmel verdienet habe."
Der Olymp billigte die Antwort des neuen Gottes, und Juno
ward versöhnt.
2. Der Besitzer des Bogens.
Von Gotthold Ephraim Lessing.
Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem
er sehr weit und sehr sicher schoß und den er ungemein wert hielt. Einst
aber, als er ihn aufmerksam betrachtete, sprach er: „Ein wenig zu plump
bist du doch! Alle deine Zierde ist die Glätte. Schade! — Doch dem
ist abzuhelfen," fiel ihm ein. „Zch will hingehen und den besten Künstler
Bilder in den Bogen schnitzen lassen." — Er ging hin, und der Künstler
schnitzte eine ganze Jagd aus den Bogen; und was hätte sich besser
auf einen Bogen geschickt als eine Jagd?
Der Mann war voller Freuden. „Du verdienest diese Zieraten,
mein lieber Bogen!" Indem will er ihn versuchen; er spannt, und der
Bogen — zerbricht.
3. Der Niese.
Von Gotthold Ephraim Lessing.
Ein rebellischer Riese schoß seinen vergifteten Pfeil über sich in
den Himmel, niemand Geringerem als einem Gott das Leben damit
zu rauben. Der Pfeil flog in die unermessenste Ferne, in welcher ihm
auch der schärfere Blick des Riesen nicht folgen konnte. Schon glaubte
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