Aus dem Gudrunliede.
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13. Als bei des Tages Scheiden die Dämmerung begann,
traten ihren Äeimweg die armen Maide an.
Daheim empfing sie zornig die Königin Gerlind.
Die schalt sie, wie gewöhnlich den Minniglichen bösgesinnt.
6) Wie Äerwig und Ortwein Gudrun fanden.
1. Die königlichen Maide, die hart gebettet lagen,
konnten kaum abwarten, daß es begann zu tagen.
Sie schliefen nicht, dieweil sie im stillen stets sich fragten,
wann wohl die Ritter kämen, die von dem Vogel angesagten.
2. Sie gingen in der Frühe des Morgens an den Strand
und standen da und wuschen von neuem das Gewand,
das aus den Kies des Meeres sie selbst hinabgetragen.
Wie hoch auch ging ihr Ewffen, noch schuf's kein Ende ihren Plagen. ,
3. Sie mußten lange harren, bis sie auf dem Meer
sahen eine Barke, die trug zwei Männer her.
Als Hildburg diese beiden hatte wahrgenommen,
rief sie: „Hei, die Degen, die aus der Heimat sollen kommen!"
4. Ratlos fragte Gudrun: „Was mach' ich Arme nun?
Sag' mir, liebe Freundin, was soll ich jetzo tun?
Entlauf' ich — oder lass' ich in solcher Schmach mich sehn?
Viel lieber möcht' in Diensten mein Leben lang als Magd ich stehn!"
5. Die Maide rannten beide fort vom Meeresstrand.
So nahe aber waren die Degen schon dem Land,
daß ihnen nicht entgingen die holden Wäscherinnen
und daß sie sahn, wie beide, die Wäsche lassend, flohn von hinnen.
6. Sie sprangen aus der Barke und riefen ihnen nach:
„Schöne Wäscherinnen, was laufet ihr so jach?
Ihr sehet, wir sind Fremde: wollt ihr vor uns entrinnen,
so nehmen wir zum Raube euch all das schöne weiße Linnen!"
7. Sie hielten an und kehrten zurück, in nassem Kleid —
die Armen, die doch wahrlich gesehen beßre Zeit.
Ihr Haupthaar war verworren, zerzaust vom Märzenwind.
In Schnee und Regen waren hinausgesandt sie von Gerlind.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. Ober-Tertia. 16