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II. Kulturbilder.
und wollten eben die Köpfe wieder einziehen — da! — nein, es war
keine Täuschung: da zeigten sie sich wirklich! Am Saum des fernen
Kiefernwaldes, wo dieser an eine öde Sandfläche grenzte, die sich bis
zur Stadt heranzog, war plötzlich ein neuer Gegenstand erschienen, ein
dunkles Etwas, das sich lebhaft hin- und herbewegte. Dann waren es
zwei und immer mehrere. Bald schwärmte es wie ein Mückenschwarm
der Stadt zu.
„Die Russen! die Russen!" frohlockten wir, und fort ging's mit
Sturmeseile, den Eltern das entzückende Ereignis zu verkünden. Mein
Bruder krallte sich fest an meine Jacke, schreiend, er wollte es auch mit
sagen, denn er habe sie zuerst gesehen. So wirbelten wir gekoppelt
und gedoppelt die Treppe hinunter und drangen atemlos in das Arbeits¬
zimmer des Vaters, der empört über unser Ungestüm den Malstock hob
und uns die Flegelei verwies. Da er aber den Grund unserer Auf¬
regung erfuhr, eilte er, die Arbeit vergessend, mit uns auf den Boden
und blickte mit seinem scharfen Auge in die Ferne. Wir hatten recht
gesehen; es waren Kosaken, die lustig auf dem Sande schwärmten und
sich der Festung immer kecker nahten.
Ob wir hier Zeugen des ersten Schusses wurden, der aus der Stadt
flel, oder ob meine Einbildungskraft die Erzählung anderer zum eigenen
Erlebnis umgeprägt hat, kann ich nicht sagen; doch glaube ich gesehen
zu haben, wie einer der Kosaken, nahe an die Palisaden heranreitend,
auf den Knall einer Flinte taumelte und dann tot vom Pferde fiel,
das ruhig neben ihm stehen blieb. Plötzlich aber war er wieder lebendig,
sprang in den Sattel, schwenkte seine hohe Mütze gegen seine
Mörder und jagte dann zurück zu seinen Kameraden. Dies Stückchen
gefiel uns dermaßen wohl, daß wir es nachher des öfteren wie eine
Komödie aufgeführt haben. Ich kam auf einer Fußbank angesprengt,
mein Bruder feuerte hinter dem Äolzkorb vor, und dann geschah alles
so wie dort.
An demselben Morgen sahen wir aus unseren Fenstern, wie zwei
schlanke, hechtblaue Sachsenleutnants einen kleinen stämmigen Kosaken¬
offizier mit verbundenen Augen vorüberführten.
„Sie haben ihm ins Gesicht geschossen", sagte mein Bruder ruhig,
„und ihn dann gefangen."
Aber der Vater belehrte uns, daß das ein Parlamentär sei, den
man zum Kommandanten führe. Ich sah den kleinen, straffen Parla¬
mentär mit so lebhaftem Interesse an, daß er mir mit seinen festen,
kurzen Schritten, seinem breiten Nacken und der stolzen Haltung seines
verbundenen Kopfes noch heute ganz lebendig vor den Augen steht.