Napoleon I.
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nahmegesetze die Regel störten, so ward seine auswärtige Politik vor¬
nehmlich deshalb der Welt unerträglich, weil jeder neue Tag das Be¬
stehende umstoßen konnte. Solche Angst vor dem Anberechenbaren be¬
wog die Pforte zur schlimmsten Stunde, den verhängnisvollen Frieden
von Bukarest mit Rußland abzuschließen; denn wer verbürgte, daß der
Frankensultan nicht auch nach dem Bosporus seinen Arm ausstrecken
werde? Welche lange Reihe von Eintagsstaaten, all diese Reiche von
Berg, Etrurien, Westfalen, die, kaum geschaffen, wieder verschwanden
oder ihre Grenzen änderten! Die gesamte Politik ist in ewigem Wechsel
wie der Flugsand der Dünen. Zu gleicher Zeit ködert der Imperator
die Kronen von Preußen und von Schweden mit Pommern, England
und Preußen mit Hannover. Heute denkt er, Nassau der Selbständig¬
keit zu berauben, morgen gibt er dem Hause Nassau den Vorsitz im
Fürstenrate des Rheinbundes. Zm Jahre 1805 erklärt er feierlich, das
Kaiserreich werde niemals mehr seine Grenzen erweitern; kaum ist das
Wort gesprochen, so wird Genua einverleibt. Zm selben Jahre ver¬
spricht er, daß die Krone Italiens künftighin von der französischen ge¬
trennt bleiben solle; zwei Jahre darauf nimmt er sein Wort zurück.
In Tilsit schreibt er dem Zaren — damals unzweifelhaft in vollem
Ernst — seine unmittelbare Herrschaft dürfe die Elbe niemals über¬
schreiten; drei Jahre später ist die Einverleibung Hamburgs „durch die
Amstände geboten". Nachdem er die rechtmäßigen Könige gedemütigt
hat, beraubt er seine Brüder. Immer frecher, roher, vermessener lauten
die Entschuldigungen dieser wüsten Ländergier: Holland ist eine An¬
schwemmung französischer Flüsse, Italien die Seite, Spanien die Fort¬
setzung Frankreichs. Jeder Sieg hebt diese gärende Phantasie zu küh¬
neren Flügen empor, berauscht den Anersättlichen mit begehrlicheren
Träumen. Während des spanischen Aufstandes vermißt er sich: „Ich
kann in Spanien die Säulen des Herkules finden, doch nie die Grenzen
meiner Macht," und als nun die ganze Halbinsel von Waffen starrt,
ein furchtbares Auflodern der nationalen Leidenschaft die Franzosen zu
vernichten droht, alle erdenklichen Gründe der Politik und Strategie
den Kaiser mahnen, seine gesamte Macht auf Spanien zu werfen, da
beginnt der Rastlose die russischen Händel. Kaum winkt ihm in Ru߬
land ein erster Erfolg, so plant er schon, den Stützpunkt seiner Anter-
nehmungen an die Wolga zu verlegen, in ungeheuerem Anprall auf das
englische Indien zu stürzen. Da er endlich als landflüchtiger Mann
in Frejus die Anker lichtet, sagt er zu seinem Augereau: „Asien bedarf
eines Mannes."
Selbst an Anternehmungen von echter staatsmännischer Größe
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