von früh bis spät bei einer und derselben Art von Arbeit zuzubringen,
waren längst dafür zu haben, die meisten Arten von Nadelarbeit, auch
mit Hilfe der inzwischen erfundenen Nähmaschine und der Strick—
maschine für den Verkauf im offenen Geschäfte anzufertigen. Die
Handarbeit wurde und wird darum immer weniger lohnend, und der
Geschäftsmann hat obendrein von seinem Standpunkt aus mit Recht
lieber mit Arbeiterinnen aus dem Volke als mit gebildeten zu thun.
Nun war von jeher auch das Lehrfach den Frauen zugänglich.
Es ist nicht zu verwundern, wenn in der Not manches Mädchen auf
den Gedanken kam, Lehrerin zu werden, auch ohne innere Neigung
für diesen schönen aber verantwortungsvollen und schweren Beruß,
und ohne die dazu nötigen Gaben zu besitzen. In den sechziger Jahren
aber richteten die meisten deutschen Staaten öffentliche Prüfungen für
alle ein, die ein Lehramt an Schulen übernehmen wollten. Das setzte
eine besondere Vorbildung voraus, wie sie jetzt fast ausschließlich durch
den mehrjährigen Besuch eines Seminars erlangt wird, und dadurch
wurden viele abgeschreckt. Durch Ausübung irgend einer schönen Kunst:
der Musik, der Malerei, der Mimik, hatten seit langer Zeit Frauen
ihren Unterhalt erworben; aber dazu gehört eine besondere Anlage,
eine gründliche, kostspielige Vorbildung, und nicht jede möchte es unter—
nehmen, öffentlich aufzutreten.
So war allmählich eine Notlage für alle gebildeten und unbe—
mittelten Mädchen und Frauen entstanden, die nicht mehr im Hause
Lebensarbeit und Brot finden konnten. Von vielen einsichtigen Volks—
freunden, welche sich mit der Lage der arbeitenden Klassen überhaupt
beschäftigten und auch diese Schwierigkeit erwogen, kam insbesondere ein
verdienstvoller Mann in Berlin, der Präsident Adolf Lette (gest. 1868)
auf den Gedanken, durch Vereinsthätigkeit dahin zu wirken, daß den
gebildeten Mädchen und Frauen, die sich selbst ihr Brot verdienen
wollten, Gelegenheit geboten werde, allerlei nützliche, bezahlte Arbeit
gründlich zu lernen und nachher angemessen zu verwerten. Er gründete
den später nach ihm benannten Lette-Verein zur Ausbildung und
Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts, über welchen
die Kronprinzessin Viktoria, die jetzige Kaiserin Friedrich bereitwillig
und in sehr wirksamer Weise das Protektorat übernahm, und dem noch
jetzt die vortreffliche, einsichtige und thatkräftige Tochter des Stifters,
Frau Anna Schepeler-⸗Lette, vorsteht.
Im Kriegsjahr 1866 wurde die Schule des Lettevereins mit
drei Schülerinnen eröffnet. Aus dem Senfkörnlein ist inzwischen ein
weithin schattender Baum geworden, und die Vögel des Himmels
nisten unter seinen Zweigen. Weit über zwölftausend Mädchen und
Frauen haben in den ersten dreiundzwanzig Jahren seines Bestehens
durch seine verschiedenen Veranstaltungen die Möglichkeit gewonnen,
sich ihren Lehensunterhalt durch eigene ehrenhafte Arbeit zu ver
dienen. Längst besitzt er sein eigenes Haus, ein stattliches mehr⸗
stöckiges Gebäude in Berlin; im Jahre 1889 ist ein zweites Haus
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