Full text: [Teil 5 = achtes (und neuntes Schuljahr)] (Teil 5 = achtes (und neuntes Schuljahr))

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147. Die Straßburger Tanne. 
Friedrich Rückert. Gedichte. 17. Aufl. Frankfurt a. M., 1872. 
1. Bei Straßburg eine Tanne 6. Dann kam die Zeit der Irrung, 
Im Bergforst, alt und groß, Des Abfalls in das Land 
Genannt bei jedermanne Voll schmählicher Verwirrung, 
Die große Tanne bloß, Da ich gar traurig stand; 
Ein Rest aus jenen Tagen, Es klirrten fremde Waffen, 
Als dort noch Deutschland lag, Es zuckte mir durchs Mark, 
Die ward nun abgeschlagen Ich sah die Zeit erschlaffen 
An diesem Pfingstmontag. Und blieb kaum selber stark. 
2. Da kamen wie zum Feste 
Zusammen, fern und nah, 
In ganzen Scharen Gäste 
Und sahn das Schauspiel da. 
Sie jauchzeten mit Schalle, 
Als niedersank ihr Kranz, 
Und hielten nach dem Falle 
Im Forsthaus einen Tanz. 
Hat einer wohl vernommen, 
Was, als die Wurzel brach, 
Im Herzen tief beklommen 
Zuletzt die Tanne sprach? 
Ein Wiederhall vernahm es 
Der trug von Ziel zu Ziel 
Es weiter, und so kam es 
Hier in mein Saitenspiel. 
4. So sprach die alte Tanne: 
„Ich stehe nun der Zeit 
Hier eine lange Spanne 
In dieser Einsamkeit, 
Von dieses Berges Gipfel 
Mich streckend in die Luft; 
Es webt um meine Wipfel 
Noch der Erinn'rung Duft. 
*Ich sah in alten Zeiten 
Die Kaiser und die Herrn 
Im Lande ziehn und reiten; 
Wie liegt das heut' so fern! 
Da mocht' ich wohl mit Rauschen 
Sie grüßen in der Nacht 
Und mit den Winden tauschen 
Gespräch von deutscher Macht. 
7. Den Himmel sah ich säumen 
Ein neues Morgenrot, 
Es scholl aus fernen Räumen 
Der Freiheit Aufgebot; 
Ich sah auf alten Bahnen 
Die neuen Deutschen gehn, 
Die lang entwohnten Fahnen 
Vom Rheinstrom her mir wehn. 
3. 
Da schüttelten die Winde 
Mein altes Haupt im Sturm; 
Vor Schreck entsank der Rinde, 
Der sie genagt, der Wurm: 
Nun werden deutsch die Gauen 
Vom Wasgau bis zur Pfalz, 
Und wieder wird man bauen 
Hier eine Kaiserpfalz. 
9. Doch als das große Wetter 
Eilfertig, ohne Spur, 
Wie Windeshauch durch Blätter, 
Dahier vorüber fuhr: — 
Mein Wipfel ist geborsten, 
Es wird nicht mehr der Aar 
In diesen Forsten horsten, 
Der meine Hoffnung war. 
10. Lebt, Adler, wohl und Falken! 
Ich fall' in Schmach und Graus 
Und gebe keinen Balken 
Zu einem deutschen Haus; 
Man wird hinab mich schleppen 
Und drunten aus mir nur 
Versehn mit neuen Treppen 
Mairie und Präfektur.
	        
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