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Schaut und den Menschen aus Staube gemacht zum Tempel sich heiligt!
Rein sei das Herz! So darf ich, obwohl mit der bebenden Stimme
Eines Sterblichen, doch den Gottversöhner besingen
Und die furchtbare Bahn, mit verziehnem Straucheln, durchlaufen.
Menschen, wenn ihr die Hoheit kennt, die ihr damals empfinget,
Da der Schöpfer der Welt Versöhner wurde; so höret
Meinen Gesang, und ihr vor allen, ihr wenigen Edlen,
Teure, herzliche Freunde des liebenswürdigen Mittlers,
Ihr mit dem kommenden Weltgerichte vertrauliche Seelen,
Hört mich und singt den ewigen Sohn durch ein göttliches Leben.
2. Maria und Portia.
(Gesang VII., Bers 264-497.)
Unterdes kam die Mutter des liebsten unter den Söhnen
Nach durchwachter, einsamer Nacht mit dem Schauer der Dämm'rung
Nach Jerusalem, fand ihn im Tempel nicht, wo sie ihn suchte,
Fand den göttlichen Sohn nicht. Versenkt in ängstliches Staunen,
Höret sie von den Palästen der Römer herüber ein dumpfes,
Tiefaufsteigend Getöse. Sie ging dem Getös entgegen,
Ohne daran zu denken, woher es entstünde. Nun geht sie
Unter dem Volke, das rings durch Jerusalem gegen den Richtstnhl
Drang. Beklommen, allein noch ruhig wegen des Aufruhrs
Nrsach', naht sie dem Richtstuhl sich. Hier sieht sie Lebbäus.
Doch kaum sah Lebbäus die Mutter, da floh er. „Ach, flieht er?
Warum wendet er sich?" So dachte Maria. Die Vorsicht
Zückt' auf sie mit diesem Gedanken das Schwert, das bestimmt war,
Ihr durch die Seele zu gehn. Maria erhub sich und sahe
Jesus. Ihr Engel, als er die Todesblässe, mit der sie
Bleich ward, als er die starrenden Augen der Mutter erblickte,
Wandt' er sein Antlitz. Doch sie, da ihrem Auge das Dunkel,
Ihrem Ohr die Betäubung entsank, ging vorwärts und bebte
Näher zum Richtstuhl hin und sah noch einmal den Sohn stehn,
Sah die mächtigen Kläger um ihn und den richtenden Römer,
Hörte die Stimme des Volks, die rings mit Wut von dem Tode
Wiederhallte. Was sollte sie thun? Zu welcher Erbarmung
Sollte sie flehn? Sie schaute sich um, da war kein Erbarmer!
Schaute gen Himmel empor, auch er verstummte der Mutter!
Jetzo betet ihr blutendes Herz: „O, der ihn durch Engel
Mir verkündigen ließ, mir ihn in Bethlehems Thal gab,
Daß ich mit Mutterfreuden mich freute, mit denen der Mutter
Keine sich jemals freute, mit Freuden, die selber die Engel
In dem Liede von seiner Geburt nicht alle besangen,
Du, der Samuels Mutter erhörte, da sie anl Altare
Stand und >veint' und betet', erhör'. Erbarmer, den Jammer
Meiner Seele, vernimm die Angst, die mehr mich erschüttert,
Als der Gebärerin Angst! Das mütterlichste der Herzen
Gäbest du mir und den besten der Söhne, den besten vor allen
Erdegeborenen. Laß ihn nicht sterben, ist anders mein Flehen
Deinem göttlichen Willen gemäß, o du, der die Himmel
Schuf und der Thräne gebot, zu dir um Erbarmung zu flehen!"
Hier verstummt' ihr Herz. Der Strom der kommenden Scharen
Trieb sie seitwärts und nahm ihr des Sohns Anblick. Sie entriß sich