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Veranlassung war. Bei der sonst umständlichen Beschreibung der Jagd,
auf welcher Siegfried ermordet wird, geschieht nur Erwähnung der blumen¬
reichen Heide und des kühlen Brunnens unter der Linde. In der Gudrun,
die eine gewisse feinere Ausbildung zeigt, bricht der Sinn für die Natur-
etwas mehr durch. Als die Königstochter mit ihren Geführten, zu niedrigem
Sklavendienste gezwungen, die Gewänder ihrer grausamen Gebieter an
das Ufer des Meeres trägt, wird die Zeit bezeichnet, wo der Winter sich
eben gelöst und der Wettgesang der Vogel beginnt. Noch fallen Schnee
und Regen herab, und das Haar der Jungfrau wird vom rauhen März¬
winde gepeitscht. Als Gudrun, ihre Befreier erwartend, das Lager verläßt,
und nun das Meer beim Ausgang des Morgensternes zu schimmern be¬
ginnt, unterscheidet sie die dunkeln Helme und die Schilde der Freunde.
Es sind wenige Worte, welche dies andeuten, aber sie geben ein anschauliches
Bild, bestimmt, die Spannung vor einem wichtigen geschichtlichen Ereignis
zu vermehren. Nicht anders macht es Homer, wenn er die Cyklopeninsel
schildert und die geordneten Gärten des Alkinous: er will anschaulich
machen die üppige Fülle der Wildnis, in der die riesigen Ungeheuer leben,
rind den prächtigen Wohnsitz eines mächtigen Königs. Beide Dichter gehen
nicht darauf aus, eine für sich bestehende Naturschilderung zu entwerfen.
Dem schlichten Volksepos stehen die inhaltreichen Erzählungen der
ritterlichen Dichter des dreizehnten Jahrhunderts entgegen, die eine be¬
wußte Kunst übten, und unter welchen sich Hartmann von Aue, Wolfram
von Eschenbach und Gottfried von Straßburg im Beginne des Jahr¬
hunderts so sehr hervorheben, daß man sie die großen und klassischen
nennen kann. Aus ihren umfangreichen Werken würde man Beweise genug
von tiefem Gefühl für die Natur, wie es zumal in Gleichnissen ausbricht,
sammeln können; aber der Gedauke an unabhängige Naturschilderungen
war auch ihnen fremd. Sie hemmten nicht den Fortschritt der Handlung,
uni bei der Betrachtung des ruhigen Lebens der Natur stille zu stehen.
Wie verschieden davon sind die neueren dichterischen Kompositionen!
Die lyrischen Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, wenn sie die
Minne besingen, reden oft genug von dem milden Mai, dem Gesang der
Nachtigall, dem Tau, welcher an den Blüten der Heide glänzt: aber immer
nur in Beziehung der Gefühle, die sich darin abspiegeln sollen. Um
trauernde Stimmungen zu bezeichnen, wird der salben Blätter, der ver¬
stummenden Vögel, der in Schnee vergrabenen Saaten gedacht. Dieselben
Gedanken, freilich schon und sehr verschiedenartig ausgedrückt, kehren un¬
ablässig wieder. Der seelenvolle Walther von der Vogelweide und der
tiefsinnige Wolfram von Eschenbach, von dem wir leider nur wenige
lyrische Gesänge besitzen, sind hier als glänzende Beispiele aufzuführen.
Die Frage, ob der Kontakt mit dem südlichen Italien oder durch
die Kreuzzüge mit Kleinasien, Syrien und Palästina die deutsche Dicht¬
kunst nicht mit neuen Naturbildern bereichert habe, kann im allgemeinen
nur verneint werden. Alan bemerkt nicht, daß die Bekanntschaft mit dem
Orient dem Minnegesang eine andere Richtung gegeben habe. Die Kreuz¬
fahrer kamen wenig iit nahe Verbindung mit den Sarazenen; ja sie lebten
selbst mit anderen Völkern, die für dieselbe Sache kämpften, in großer
Spannung. Einer der ältesten lyrischen Dichter war Friedrich von Hausen.