Full text: [Teil 4 = (Unter-Tertia), [Schülerband]] (Teil 4 = (Unter-Tertia), [Schülerband])

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II. Geschichte. 2. Kulturgeschichtliches. 
27. Der Sänger. 
Linnig, Der deutsche Aufsatz. 
Vergl. das Ged. Nr. 18: Der Graf von Habsburg, von Schiller. 
Zu keiner Zeit Wohl hat Gesang und Dichtkunst in so hohen Ehren 
gestanden, wie in der ruhmvollen Zeit der Hohenstaufen, der Blütezeit des 
Rittertums und der Poesie. Da durfte bei keinem Feste, bei keinem heitern. 
Mahle der Sänger fehlen. Mit dem Saitenfpiele auf dem Rücken zog er 
mit seinem Rößlein von Burg zu Burg, von Hof zu Hof, von Stadt zu 
Stadt, und wohin er kam, überall wurde er willkommen geheißen. Holde 
Edelfrauen und tatenlustige Ritter, gekrönte Häupter und ehrsame Bürger 
lauschten seinen Liedern. Bald sang er von Minne und Frühlingslust, 
bald von wunderbaren Abenteuern und ritterlichen Großtaten. Gleich 
fertig in der Kunst des Saitenspiels wie des Gesanges, sprach er aus, was 
seine Seele bewegte, nicht für das tote Papier, sondern im lebensvollen 
Kreise der Zuhörer, ein Trostspender der Betrübten, Liebenden ein Beseliger, 
ein Herold den Helden und Kaisern und Königen eine unentbehrliche Er¬ 
holung von den Sorgen ihres Amtes. 
Dieser glücklichen Zeit gehört die Szene an, die uns Goethe in seiner 
Romanze „der Sänger" in wenigen, aber wirksamen und lebendigen Zügen 
geschildert hat. Da erhebt sich vor unsern Blicken eine mittelalterliche 
Burg mit ihren Zinnen, Brücken und Toren; ein Saal voller Pracht und 
Herrlichkeit tut sich vor uns auf, und darin erblicken wir, umgeben von 
Rittern und schönen Frauen, von Pagen und vom Kanzler, den König in 
festlicher Stimmung. Kaum dringen die ersten Akkorde der Harfe vom 
Schloßtore her an das Ohr des Fürsten, so läßt er alsbald den Sänger 
durch einen hurtigen Pagen vor sein königliches Antlitz entbieten. Und 
jener kommt, zwar ein Greis an Jahren, dem aber der Quell der Jugend 
noch zauberkräftig rinnt, und der gerne weilt, wo frischer Jugendmut 
und heitere Lebenslust eine den Sorgen des Lebens entrückte Stätte auf¬ 
geschlagen haben. Erfreulich ist ihm der Glanz des Hofes mit seinen 
bunten Erscheinungen; aber sein Auge weilt nur so lange auf ihm, bis 
die Phantasie an ihm sich entzündet hat und der Quell des Gesanges in 
der Seele sich reget. Nun würde ihn weiterhin dieser Glanz nur blenden 
und zerstreuen; darum schließt er die Augen, um wie sein göttliches 
, Vorbild Homeros oder der blinde phäakische Sänger Demodokos sein 
Lied anzustimmen. Rasch und mächtig greift er in die Saiten, froh und 
frisch rauscht sein Lied dahin, indem es in den Herzen der Frauen die 
zartesten Saiten der Minne anschlägt, die Ritter für Ehre und kriegerische 
Taten begeistert und dem Könige Besitztum und Ruhm erhöht und verklärt. 
Und wie der Gesang das Gemüt derer, die ihm lauschen, belebt und
	        
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