88
II. Geschichte. 2. Kulturgeschichtliches.
27. Der Sänger.
Linnig, Der deutsche Aufsatz.
Vergl. das Ged. Nr. 18: Der Graf von Habsburg, von Schiller.
Zu keiner Zeit Wohl hat Gesang und Dichtkunst in so hohen Ehren
gestanden, wie in der ruhmvollen Zeit der Hohenstaufen, der Blütezeit des
Rittertums und der Poesie. Da durfte bei keinem Feste, bei keinem heitern.
Mahle der Sänger fehlen. Mit dem Saitenfpiele auf dem Rücken zog er
mit seinem Rößlein von Burg zu Burg, von Hof zu Hof, von Stadt zu
Stadt, und wohin er kam, überall wurde er willkommen geheißen. Holde
Edelfrauen und tatenlustige Ritter, gekrönte Häupter und ehrsame Bürger
lauschten seinen Liedern. Bald sang er von Minne und Frühlingslust,
bald von wunderbaren Abenteuern und ritterlichen Großtaten. Gleich
fertig in der Kunst des Saitenspiels wie des Gesanges, sprach er aus, was
seine Seele bewegte, nicht für das tote Papier, sondern im lebensvollen
Kreise der Zuhörer, ein Trostspender der Betrübten, Liebenden ein Beseliger,
ein Herold den Helden und Kaisern und Königen eine unentbehrliche Er¬
holung von den Sorgen ihres Amtes.
Dieser glücklichen Zeit gehört die Szene an, die uns Goethe in seiner
Romanze „der Sänger" in wenigen, aber wirksamen und lebendigen Zügen
geschildert hat. Da erhebt sich vor unsern Blicken eine mittelalterliche
Burg mit ihren Zinnen, Brücken und Toren; ein Saal voller Pracht und
Herrlichkeit tut sich vor uns auf, und darin erblicken wir, umgeben von
Rittern und schönen Frauen, von Pagen und vom Kanzler, den König in
festlicher Stimmung. Kaum dringen die ersten Akkorde der Harfe vom
Schloßtore her an das Ohr des Fürsten, so läßt er alsbald den Sänger
durch einen hurtigen Pagen vor sein königliches Antlitz entbieten. Und
jener kommt, zwar ein Greis an Jahren, dem aber der Quell der Jugend
noch zauberkräftig rinnt, und der gerne weilt, wo frischer Jugendmut
und heitere Lebenslust eine den Sorgen des Lebens entrückte Stätte auf¬
geschlagen haben. Erfreulich ist ihm der Glanz des Hofes mit seinen
bunten Erscheinungen; aber sein Auge weilt nur so lange auf ihm, bis
die Phantasie an ihm sich entzündet hat und der Quell des Gesanges in
der Seele sich reget. Nun würde ihn weiterhin dieser Glanz nur blenden
und zerstreuen; darum schließt er die Augen, um wie sein göttliches
, Vorbild Homeros oder der blinde phäakische Sänger Demodokos sein
Lied anzustimmen. Rasch und mächtig greift er in die Saiten, froh und
frisch rauscht sein Lied dahin, indem es in den Herzen der Frauen die
zartesten Saiten der Minne anschlägt, die Ritter für Ehre und kriegerische
Taten begeistert und dem Könige Besitztum und Ruhm erhöht und verklärt.
Und wie der Gesang das Gemüt derer, die ihm lauschen, belebt und