Full text: Deutsches Lesebuch für Tertia (Teil 4, [Schülerband])

L. Häusser: Deutschland nach dein dreißigjährigen Kriege. 349 
eifersüchtige Freiheitsgefühl der alten Zeit verloren hatte. Ein ver¬ 
armter Adel, der im Dienste der neuen Herren seine Existenz suchte, 
ein Vürgerstand ohne selbständigen Handel und Industrie, überhaupt 
ein Volk, das durch Not und Elend herabgekommen, durch die Richtung 
der Zeit, wie durch die herrschende Lebensansicht zum passiven Ge¬ 
horsam und zur Unterordnung teils erzogen, teils gezwungen war — 
das waren die Elemente nicht, die gegen den aufstrebenden Absolutis- 
nius des Jahrhunderts eine Schranke aufzurichten vermochten. 
Und gegen fürstliche Gewalten, die fast sämtliche Hoheitsrechte 
an sich gezogen, ohne deren Zustimmung der Kaiser weder Zölle, 
noch Reichssteuern, noch Lehenbriefe, noch Münzrechte erteilen konnte, 
die über reiche Einnahmequellen verfügten und aus dereu Ertrag eine 
stehende Heeresmacht unterhielten, bot eine kaiserliche Autorität, wie 
die jüngsten Verträge sie begrenzt, kein Gegengewicht mehr; die Ver¬ 
fassung des Reiches hatte fast aufgehört, eine monarchische zu sein, 
sie trug schon vorwiegend das Gepräge eines aristokratisch-republikani¬ 
schen Gemeinwesens. 
Während das Reich aus diese Weise seine alte bindende Macht 
eingebüßt, ja selbst durch den Eintritt fremder Mächte seinen nationalen 
Charakter verloren hatte, waren die meisten Nachbarstaaten, zunächst 
Frankreich und Schweden, an Ausdehnung wie an innerer Einheit 
ungemein gewachsen und übten jenes natürliche Übergewicht, welches 
ihre abgerundete Lage, ihre monarchische Einigung und Unumschränkt- 
heit gegenüber einem lockeren Föderativstaate ihnen verleihen mußte. 
Indes in Frankreich alle Staatskräfte in der Hand eines aufstreben¬ 
den, ehrgeizigen Königs zusammengefaßt, in einer Richtung ausgebeutet, 
und diese Fülle von Hilfsquellen von genialen Feldherren und Staats¬ 
männern nutzbar gemacht wurden, war Deutschland durch politische 
und religiöse Gegensätze dauernd entzweit, durch den Zwiespalt von 
Kaiser und Fürstentum, die Rivalität der Reichsstände, die Verschieden¬ 
heit der Bekenntnisse nach allen Seiten hin auseinander gehalten. 
Die letzten Formen des alten Reichsverbandes, der Reichstag und 
das Reichskammergericht, waren in eine trostlose Stagnation geraten. 
Vergebens suchte man die Reichsjustiz wieder in einen normalen Gang 
zu bringen, das große Reich vermochte kaum für ein Dutzend Beisitzer 
die nötigen Mittel beizuschasten, indessen schon 1620 über 50000 Stück 
Akten in den Kammergerichtsgewölben unerledigt lagen. Der Reichs¬ 
tag selbst, durch den sogenannten „jüngsten Reichsabschied" vom 
17. Mai 1654 zum letzten Male verabschiedet, ward fortan zu einer 
permanenten Versammlung und büßte damit den größeren Teil der 
Bedeutung eilt, die er für das öffentliche Leben des gesatnten Deutsch¬ 
lands noch gehabt hatte. Aus einer persönlichen Vereinigung der 
meisten oder sänitlicher Reichsstände ward eine schwerfällige Versamm¬
	        
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