Full text: Deutsches Lesebuch für Tertia (Teil 4, [Schülerband])

L- Häusser: Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst. 353 > 
überlassen werden. Aber diesseits des Wassers hat sich zunächst an 
einer verwitterten, zerbröckelten Felspartie eine merkwürdige Baum¬ 
gruppe erhalten. Gealtert steht eine herrliche Buche da, entblättert, 
entästet, mit geborstener Rinde. Damit sie uns aber durch ihren 
herrlich dargestellten Schaft nicht betrübe, sondern erfreue, so sind ihr 
andere, noch volllebendige Bäume zugesellt, die dem kahlen Stamme 
durch den Reichtum ihrer Äste und Zweige zu Hilfe kommen. Diesen 
üppigen Wuchs begünstigt die nahe Feuchtigkeit, welche durch Moos, 
Rohr und Silmpfkräuter genugsam angedeutet wird. 
Indem nun ein sanftes Licht von dem Kloster zu den Linden 
und weiterhin sich zieht, an dem weißen Stamme der Buche wie im 
Wiederscheine glänzt und über den sanften Fluß und die rauschenden 
Fälle, über Herden und Fischer zurückgleitet und das ganze Bild 
belebt, sitzt nahe am Wasser im Vordergründe, uns den Rücken zu¬ 
kehrend, der zeichnende Künstler selbst, und diese so oft mißbrauchte 
Staffage erblicken wir mit Rührung hier mn Platze so bedeutend als 
wirksam. Er sitzt hier als Betrachter, als Repräsentant von allen, 
welche das Bild künftig beschauen werden, welche sich mit ihm in die 
Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart, die sich so lieblich 
durcheinander webt, gern vertiefen mögen. 
Glücklich aus der Natur gegriffen ist dies Bild, glücklich durch 
den Gedanken erhöht, und da man es noch ohnehin nach allen Er¬ 
fordernissen der Kunst angelegt und ausgeführt findet, so wird es 
uns immer anziehen, es wird seinen wohlverdienten Ruf durch alle 
Zeiten erhalten und auch in einer Kopie, wenn sie einigermaßen 
gelang, das größere Verdienst des Originals zur Ahnung bringen. 
29. Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst. 
Von L. Häusser. Teutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur 
Gründung des deutschen Bundes. 
Der einzige Staat, der aus der Zerrüttung sich aufrichtete, welche 
der dreißigjährige Krieg über Deutschland gebracht, in dem die Wun¬ 
den des Krieges am raschesten vernarbten, der Staat, in welchem ein 
weises, schöpferisches Regiment mit bürgerlicher Arbeit und kriegerischer 
Kraft harmonisch zusammenwirkte zum Gedeihen des Ganzen, dieser 
Staat war Brandenburg-Preußen und sein Regent Friedrich Wilhelm 
der einzige Fürst jener Zeiten, der, frei von den schlimmen Einflüssen 
frenlder Nachahmung, kerndeutsch und tüchtig, die wohlthätigen Wir¬ 
kungen der fürstlichen Absolutie in großen Ergebnissen veranschaulichte. 
Ein solches Staatswesen, über den größten Teil des deutschen Nordens 
vom Njemen bis zum Rhein zwar nur sporadisch ausgebreitet, aber 
doch wieder so verzweigt, daß eine rivalisierende Macht dort nicht 
Hellwig und Zernial, deutsches Lesebuch, Ul. 23
	        
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