Evers: Kaiser Wilhelm I.
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ihre Treue im Dienste des Gemeinwohls. Immer inniger und fester
war das Band geworden, das ihn mit einem Bismarck und einem
Moltke einte; sein „Niemals," das er dem ersteren aus sein Abschieds¬
gesuch zurief, kam aus der innersten Brust. Als der frühere Kriegs-
ininistcr von Roon, sein treuer Helfer im Streite um die Heeresorgani¬
sation, im Sterben lag, machte sich der selbst leidende Kaiser auf, um
Abschied von dem Wackeren zu nehmen. Mit seinem Kommen warf er
auf das Sterbelager des hochverdienten Mannes den letzten Sonnen¬
glanz dieses irdischen Daseins. Es lag etwas Sonniges, die Menschen
Erwärmendes in der ganzen Persönlichkeit Kaiser Wilhelms, das jeden
an ihn fesselte, auf dem einmal ein Blick seiner Augen geruht hatte.
e) Seine Charakterstärke.
Und doch bei aller Milde und Güte welche Charakterstärke in
diesem Herrscher! Schmerzbewegte Tage, schlaflose Nächte bringt ihm
der Streit mit der Volksvertretung, die sich mehrende Entfremdung
des Volkes, das künstlich noch mehr und mehr durch eine übelwollende
Presse erregt wird, und doch nicht eine Linie weicht er von dem
Wege ab, der seiner innersten Überzetlgung nach allein dem Wohle des
Ganzen dienen kann. Sein Charakter war zu gefestigt, als daß er
schmerzlicher Gefühle wegen das Notwendige und einzig Heilsame aus¬
gab. Die fernsten Zeiten werden es dem König Wilhelm Dank wissen,
daß er fest und treu geblieben ist; seine Festigkeit hat die Gesundung
Deutschlands ermöglicht. Mit seltener Menschenkenntnis wühlte er seine
Helfer zu seinem Werke aus; aber so dankbar er sich ihnen erwies, daß
sie gleich ihm die salus publica (das Gemeinwohl) zum Leitstern sich
erwählt hatten, so machte ihn diese Dankbarkeit nicht blind in seinem
Urteile, das sich in seiner Selbständigkeit in dem Briefwechsel mit
Roon wie in seinen Regierungshandlungen stets lebendig erwies. Nie
hat er sein Ohr einem Günstling oder einem Vertrauten geliehen; der
Minister, der in seinem Ressort erprobt war, war in diesem sein einziger
Ratgeber; nie durfte ein anderer mit ihm über die Geschäfte desselben
sprechen; vergebens war es überhaupt, mit ihm über Dinge zu reden,
über die er keine Meinung verlangte; in seiner freundlichen Weise
hörte er nicht geforderten Meinungsäußerungen anfänglich ruhig zu,
aber stets verstand er es, das Gespräch bald auf anbere Gebiete zu
lenken. Nach seinem Gewissen und nach eingehender Erwägung ent¬
schied er über die von zuständiger Seite gemachten Vorschläge. Das
persönliche Eintreten Wilhelms I. bestimmte in weit höherem Maße die
Geschicke Preußens und Deutschlands, als es der Gegenwart wirklich
erscheint; wenn die Archive ihre Schätze einst eröffnen werden, wird
man ein lebensvolleres Bild seiner Regententhütigkeit entrollen können,
als cs jetzt möglich ist. Den Mitlebenden erschienen viele Thaten seiner