Full text: [Teil 6, [Schülerband]] (Teil 6, [Schülerband])

286 
110. Im Winier. 
Ein dichter Nebel deckt die stille Welt, die Natur hat sich in ihr Schnee¬ 
gewand gehüllt, und der Rauhfrost hängt an allen Zweigen und Zweig¬ 
lein. Welch einen Anblick bietet der Wald jetzt dar! Der sonst ruhelose 
Bach ist erstarrt gleich dem dunkeln See; alles ist öde und verlassen. 
Nur in der Ferne kracht eine stürzende Eiche, die unter der Axt der 
Waldarbeiter fällt; etwas näher klopft einförmig der Specht, Raben und 
Falken kreischen nach Speise, Schneegänse fliegen schreiend durch die rauhe 
Luft, aus dem Tannendickicht heult eine Eule, und dann und wann bricht 
das Wild durch das knarrende Gesträuch. Alles, was Farbe hat, selbst 
Epheu und Immergrün, Wacholder, Fichte und Tanne bedeckt ein ein¬ 
förmiges Weiß. Jetzt aber zerteilt die Dezembersonne den Nebel, und 
ihre schrägen Strahlen verwandeln das Bild wie durch einen Zauber¬ 
schlag. Mit Millionen Krystallen sind die Stämme, Äste und Zweige 
übersäet; alle die alten Gesellen des Waldes stehen so weiß, glänzend 
und starr da, als wären sie von der Hand eines Künstlers aus Alabaster 
gemeißelt. Jetzt bewegt der Wind die Äste, und anmutig erklingt es 
wie feine Silberglocken; die gefrornen Eiszapfen sind es, die sich leise 
berühren, und von denen manche tönend zur Erde fallen. Dazwischen 
kracht es wieder gewaltig von den berstenden Baumrinden, die der ge- 
frorne Saft von unten bis oben zersprengt. Wahrlich an ein Kinder¬ 
märchen erinnert uns dieser blitzende Wald! In einen schimmernden 
Feenpalast ist er verwandelt; allüberall scheint er mit wohlgeschliffenen 
Edelsteinen besetzt zu sein, die nach allen Seiten hin Funken sprühen 
und die leuchtenden Gewölbe mit ihrem flirrenden Gitterwerk ruhen auf 
prangenden Säulen und Pfeilern. Welch eine schöpferische Mannigfaltig¬ 
keit thut doch auch in diesen wunderbaren Eisbildungen sich kund! Jede 
Baumgattung hat nach der Art ihrer Verästelung einen besondern Schmuck 
umgelegt, der krause Nadelbaum, wie die starre Eiche und die schwanke 
Birke und Weide. Und jetzt wird es auf dem Bache und Waldteiche le¬ 
bendig; Schlittschuhläufer sind es, die mit dem flüchtigen Reh in die 
Wette eilen und dann wieder mit behutsamer Kunst Namen ins Eis 
schneiden. Jubelnd mischen wir uns unter ihre Schar, Stunde aus 
Stunde entfliegt, und wenn die Sonne sinkt, der Vollmond in ruhiger 
Majestät über der blitzenden Waldlandschaft emporsteigt, da tönen von 
den Türmen der Stadt her die Weihnachtsglocken. Auf ihren ersten 
Ruf fliegt alles der traulichen Wohnung zu, und siehe, auf reich belegtem 
Tische strahlt im Kerzenschmucke die Königin der Winterbäume, die 
Weihnachtstanne. Th. Toishorn.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.