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110. Im Winier.
Ein dichter Nebel deckt die stille Welt, die Natur hat sich in ihr Schnee¬
gewand gehüllt, und der Rauhfrost hängt an allen Zweigen und Zweig¬
lein. Welch einen Anblick bietet der Wald jetzt dar! Der sonst ruhelose
Bach ist erstarrt gleich dem dunkeln See; alles ist öde und verlassen.
Nur in der Ferne kracht eine stürzende Eiche, die unter der Axt der
Waldarbeiter fällt; etwas näher klopft einförmig der Specht, Raben und
Falken kreischen nach Speise, Schneegänse fliegen schreiend durch die rauhe
Luft, aus dem Tannendickicht heult eine Eule, und dann und wann bricht
das Wild durch das knarrende Gesträuch. Alles, was Farbe hat, selbst
Epheu und Immergrün, Wacholder, Fichte und Tanne bedeckt ein ein¬
förmiges Weiß. Jetzt aber zerteilt die Dezembersonne den Nebel, und
ihre schrägen Strahlen verwandeln das Bild wie durch einen Zauber¬
schlag. Mit Millionen Krystallen sind die Stämme, Äste und Zweige
übersäet; alle die alten Gesellen des Waldes stehen so weiß, glänzend
und starr da, als wären sie von der Hand eines Künstlers aus Alabaster
gemeißelt. Jetzt bewegt der Wind die Äste, und anmutig erklingt es
wie feine Silberglocken; die gefrornen Eiszapfen sind es, die sich leise
berühren, und von denen manche tönend zur Erde fallen. Dazwischen
kracht es wieder gewaltig von den berstenden Baumrinden, die der ge-
frorne Saft von unten bis oben zersprengt. Wahrlich an ein Kinder¬
märchen erinnert uns dieser blitzende Wald! In einen schimmernden
Feenpalast ist er verwandelt; allüberall scheint er mit wohlgeschliffenen
Edelsteinen besetzt zu sein, die nach allen Seiten hin Funken sprühen
und die leuchtenden Gewölbe mit ihrem flirrenden Gitterwerk ruhen auf
prangenden Säulen und Pfeilern. Welch eine schöpferische Mannigfaltig¬
keit thut doch auch in diesen wunderbaren Eisbildungen sich kund! Jede
Baumgattung hat nach der Art ihrer Verästelung einen besondern Schmuck
umgelegt, der krause Nadelbaum, wie die starre Eiche und die schwanke
Birke und Weide. Und jetzt wird es auf dem Bache und Waldteiche le¬
bendig; Schlittschuhläufer sind es, die mit dem flüchtigen Reh in die
Wette eilen und dann wieder mit behutsamer Kunst Namen ins Eis
schneiden. Jubelnd mischen wir uns unter ihre Schar, Stunde aus
Stunde entfliegt, und wenn die Sonne sinkt, der Vollmond in ruhiger
Majestät über der blitzenden Waldlandschaft emporsteigt, da tönen von
den Türmen der Stadt her die Weihnachtsglocken. Auf ihren ersten
Ruf fliegt alles der traulichen Wohnung zu, und siehe, auf reich belegtem
Tische strahlt im Kerzenschmucke die Königin der Winterbäume, die
Weihnachtstanne. Th. Toishorn.