26. Bismarck wird Minister.
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26. Bismarck wird Minister.
Cyn Paris erhielt ich folgendes Telegramm, dessen Unterschrift auf einer
Verabredung beruhte:
Berlin, 1e 18 Leptemdrs.
Berieulum in mora (Gefahr im Verzüge!). Böpoolmn-volm! 5
B'onole cke Nuuriee Henning.
Henning war der zweite Vorname Moritz Blanckenburgs, des Neffen
von Roon. Obwohl es die Fassung zweifelhaft ließ, ob die Aufforderung
aus der eignen Initiative Noons hervorgegangen oder von dem Könige ver¬
anlaßt war, zögerte ich nicht abzureisen. H)
Am 20. September morgens in Berlin angelangt, wurde ich zu dem
Kronprinzen beschieden. Auf feine Frage, wie ich die Situation ansähe,
konnte ich nur sehr zurückhaltend antworten, weil ich während der letzten
Wochen keine deutschen Zeitungen gelesen und in einer Art von ck6pit mich
über heimische Angelegenheiten nicht informiert hatte. Meine Verstimmung 15
hatte ihren Grund darin, daß der König mir in Aussicht gestellt hatte, mir
in spätestens sechs Wochen Gewißheit über meine Zukunft, d. h. darüber
zu geben, ob ich in Berlin, Paris oder London mein Domizil haben sollte,
daß darüber aber schon ein Vierteljahr verflossen war und ich im Herbst noch
immer nicht wußte, wo ich im Winter wohnen würde. Ich war mit der 20
Situation in ihren Einzelheiten nicht so vertraut, daß ich dem Kronprinzen
ein programmartiges Urteil hätte abgeben können; außerdem hielt ich mich
auch nicht für berechtigt, mich gegen ihn früher zu äußern als gegen den
König. Den Eindruck, den die Tatsache meiner Audienz gemacht hatte,
ersah ich zunächst aus der Mitteilung Roons, daß der König mit Bezug 25
auf mich zu ihm gesagt habe: „Mit dem ist es auch nichts, er ist ja schon
bei meinem Sohne gewesen." Die Tragweite dieser Äußerung wurde mir
nicht sofort verständlich, weil ich nicht wußte, daß der König sich mit dem
Gedanken der Abdikation trug und voraussetzte, daß ich davon gewußt oder
' etwas vermutet hätte und mich deshalb mit seinem Nachfolger zu stellen 30
gesucht habe.
In der Tat war mir jeder Gedanke an Abdikation des Königs fremd,
als ich am 22. September in Babelsberg empfangen wurde, und die Situation
wurde mir erst klar, als Se. Majestät sie ungefähr mit den Worten präzisierte:
„Ich will nicht regieren, wenn ich es nicht so vermag, wie ich es vor Gott, 35
meinem Gewissen und meinen Untertanen verantworten kann. Das kann
ich aber nicht, wenn ich nach dem Willen der heutigen Majorität des Landtags
Falk, Künoldt, Lippelt, Lesebuch für höhere Mädchenschulen. IX. Teil. 9